- 10 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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folgenden die Komplexität der ästhetischen Erfahrung genauer in den Blick genommen wird, stütze ich mich vor allem auf die "Frühe Einleitung" zur Ästhetischen Theorie. Dort verdeutlicht Adorno die Grundzüge seines Begriffs der ästhetischen Erfahrung mit Hilfe eines Schichtenmodells, 24) dessen Differenzierungen eine aufschließende Funktion haben, obwohl von Schichten in einem strengen, quasi-räumlichen Sinne hier nicht gesprochen werden darf. 25)


Adorno beginnt seine Darstellung der verschiedenen Momente oder Schichten mit einem Vorbehalt, indem er davor warnt, den von ihm gewählten "Anfang" als solchen zu fixieren. Er setzt ein mit der Unmittelbarkeit, die er "vom lebendigen Wahrnehmen" her bestimmt. Solche Unmittelbarkeit ist im Vollzug ästhetischer Erfahrung unüberspringbar; doch bildet diese sich erst heraus, indem sie sich zugleich von der Unmittelbarkeit entfernt. Um dies ganz deutlich zu machen und Mißverständnisse fernzuhalten, hebt Adorno die ästhetische Erfahrung ab von der "falschen" Unmittelbarkeit, die der "vorkünstlerischen" Erfahrung von ästhetischen Gegenständen eignet. In ihr identifiziert oder gegenidentifiziert sich das wahrnehmende Subjekt gleichsam blind mit dem künstlerischen Objekt (Personen, Handlungen, Situationen etc.), "wie im empirischen Leben"; es sucht sich selbst darin. Adorno bringt die vorkünstlerische Erfahrung in Verbindung zu der unkontrollierten "Projektion", von der er an anderer Stelle sagt, daß sie als "abwegig subjektive" das Kunstwerk "gänzlich verfehlen" könne, 26) und die in der Dialektik der Aufklärung beschrieben wird als ein pervertierter politisch-gesellschaftlicher Haltungsmechanismus, in dem die Subjekte sich selbst an die Stelle des Fremden, des Anderen setzen. 27) Demgegenüber ist ästhetische Erfahrung gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie "zwischen den Betrachtenden und das Objekt zunächst Distanz" legt. Zuschärfend spricht Adorno hier sogar von einer "Gegenbewegung zum Subjekt", die "etwas wie Selbstverneinung des Betrachtenden" verlangt. Das Subjekt muß fähig und bereit sein, sich dem zu öffnen, was die Kunstwerke "von sich aus sagen und verschweigen". Dies alles ist jedoch gesagt unter ausdrücklicher Wahrung des "Vorrangs von Subjektivität". Schon die unmittelbare ästhetische Erfahrung ist für Adorno geprägt durch eine in Nähe und Distanz sich vollziehende Grundspannung zwischen Subjekt und Objekt, die sich auf allen Stufen des Erfahrungsprozesses durchhält. Ohne diese Spannung bliebe das Subjekt gefangen im Banne seiner selbst, in "sturer Selbsterhaltung". Wie in strukturellem Hören sind die Hinwendung des erfahrenden Subjekts zum künstlerischen Gegenstand und seine Energie, sich ganz auf ihn einzulassen, bestimmt durch ein eigentümlich zwischen Rezeptivität und Produktivität Oszillierendes, das dem "ästhetischen Zustand" 28) wie Schiller ihn versteht, nicht fern ist. Adorno nennt dieses besondere Verhalten - in bildungstheoretischen Zusammenhängen - mit Hegel "Entäußerung": "Hingabe des Geistes an ein ihm Entgegenstehendes und Fremdes". 29) Diese notwendig sachbezogene Einstellung ist nicht zu verwechseln mit bloßer Sachlichkeit, die jener dialektischen Spannung zwischen Subjekt und Objekt ebenfalls nicht entsprechen würde und im Vorraum ästhetischer Erfahrung bliebe. Adorno verweist auf exakte kunstwissenschaftliche Beschreibungen und musikalische Analysen, die gleichwohl "alles Wesentliche schuldig bleiben". 30)


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