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- 3 - Dieter Hildebrandt, Piano, piano!


da stehen alle Klangfarben dieses Instruments zur Disposition, alle Anschlagsvarianten und Tonvolumina, alle Schattierungen zwischen klirrig und kantabel, perkussiv oder perlend, da zeigt sich dem Auge ein Festival des Klavierbaus, der schöngeschwungenen Ästhetik, der handwerklichen Genialität - und doch ist die Hölle los, die Klanghölle, Tohuwabohu der Töne, Fegefeuer der Kakophonie, peinigender Lärm, die Ohren fallen einem ab, das Gehirn wird erschüttert, der große Saal zur Folterkammer: Denn an allen diesen Instrumenten, an diesen Hunderten von Tastaturen sitzen Menschen, nicht nur live, nicht nur lebendig, sondern leibhaftig, und spielen auf Teufel komm raus, nein: hämmern darauf herum, nebeneinander, durcheinander, gegeneinander, hämmern immer lauter, weil sie vor dem Nachbarkrach den eigenen Ton nicht mehr hören können, haust du meinen Schumann, hau ich deinen Chopin, lslamej gegen Allegro barbaro, Ragtime gegen Wandererfantasie, Scarlatti nervt Liebesträume, Rachmaninow kämpft gegen Appassionata, Goldberg duckt sich unters Große Tor von Kiew, Diabelli vergeht sich an Elise - die Flügel haben sich längst vom Pianoforte zur Fortissimo-Kanone hysterisiert, zur Krachmaschine, geboten wird ein Crashkurs in der Zerstörung der Musik durch Musik, die Paradoxie der Klavierleidenschaft, die Annihilierung eines Instruments durch seine Verehrer. -Wir sind in der Piano Hall auf der Frankfurter Musikmesse 2000. Wir sind im real existierenden Klavier-Inferno.

Gibt es einen Ausweg daraus? Wenn solche Bilder doch bleiben, ja, wenn sie als instrumentalkritische Embleme sich behaupten, gibt es da dennoch eine Chance, vom Klavier noch einmal in aller Unbefangenheit zu sprechen, als wäre es ein unzerstörtes, unverstörtes Gebilde, ein immer noch intakter Klangkörper? Daß es am Strand ausgesetzt wird, daß es in Museen von der Decke hängt, daß es sich vom eigenen Lärm tontot machen läßt: Sind das nicht Indizien genug, um es nun dahingestellt sein zu lassen, als Museumsstück, als zentnerschweres Nostalgiepaket, als Sarkophag seiner selbst? Hat es nicht verdient, was es in seinem Musikleben nie erfuhr: die endlose Fermate, die ewige Ruhe? Ist es nicht technisch, kompositorisch, kulturgeschichtlich, gesellschaftlich, hörgewohnheitsmäßig überholt? Hat das Klavier nicht ausgespielt?


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