- 5 - aus: Ketil Bjørnstad: Vindings Spiel am Flügel, möchte mich am liebsten umdrehen zum Saal, aber dann würde ich ja selbst die Verzauberung, die ich hervorgerufen hatte, zerstören. Ich bin noch nicht fertig. Ich bin mitten im Schluß. Jemand anderes hat für mich die Verzauberung zerstört, hat alles zunichte gemacht, durch Rufen, Schreien, auf die gemeinste Weise. Wie verhöhnend und feindselig diese Bravorufe doch klingen im Unterschied zu den echten, begeisterten, mit denen Anja Skoog nur wenige Minuten zuvor überschüttet wurde. Und ich denke mir, daß es ein besonders bösartiger oder geistesgestörter Mensch sein muß, der so etwas macht. Ich höre die Unruhe im Saal, jemand beginnt zu lachen, anderen stockt der Atem, schockiert. Bravorufe während eines Musikstückes. Das ist noch nie passiert, jedenfalls nicht in diesen Hallen. Die Aula ist nicht der Ort für Skandale. Sie gellen durch die letzten Terzen. Ein letzter Hohn. Den Mondschein gibt es nicht mehr. Meine Finger zittern. Ich bin nicht bereit, aufzuhören, jetzt, wo ich sie beinahe gehabt hätte. Ich spiele weiter, krebsrot im Gesicht. Die Tasten verschwimmen vor meinen Augen. Das motorische Gedächtnis findet die richtigen Akkorde. Das Rufen geht weiter. Da unten entsteht ein Tumult. Endlich packt jemand die Person, die mich verhöhnt. Sie fängt an zu schreien. Ich neige den Kopf, tue so, als ließe ich mir nichts anmerken. Tränen stehen mir in den Augen. Ein Mensch wird aus dem Saal getragen, während der letzte Des-Dur-Akkord klingt. Ich erhebe mich, fühle mich elend und sehe gerade noch, daß die Person, die in diesem Moment zwischen den roten Vorhängen hinten im Saal verschwindet, meine eigene Schwester ist, Cathrine Vinding. Vater bleibt allein in der fünften Reihe zurück und schaut mich bittend an. Der losbrechende Applaus ist echt, weil ich meine Sache zu Ende gebracht habe. Aber es ist keine Begeisterung dabei, nur Mitgefühl. Diesen Auftritt will jeder möglichst schnell hinter sich haben. Ich verbeuge mich kurz und gehe zur Tür. aus: Ketil Bjørnstad: Vindings Spiel, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 2006, S. 99-104 Ketil Bjørnstad, geboren 1952, lebt als Schriftsteller, Pianist und Komponist in Oslo. Er studierte in Oslo, London und Paris klassisches Klavier. Sein musikalisches Debut gab er 1969 im Philharmonischen Orchester Oslo mit Bartóks 3. Klavierkonzert. 1972 erschien sein erster Gedichtband Alene ut. Er hat eine Serie von LPs und CDs mit eigener vom Jazz und Rock beeinflußter Musik produziert und zahlreiche Romane veröffentlicht. Für den Roman Nade (Gnade) erhielt er 1998 den Riksmalspreis. In Deutschland wurde er u. a. durch seine Romanbiographien über Edvard Grieg (Suhrkamp 1998) und Edvard Munch (Insel 1995) bekannt.
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