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- 6 - Arthur Rubinstein: Erinnerungen - Die frühen Jahre


einen kostbaren und treuen Freund, der meine Angst vor der Polizei teilte, als er mich zu Grosterns Wohnung begleitete. Grostern hatte den ganzen Tag in Alarmbereitschaft gesessen. Er berichtete, bislang habe sich nichts ereignet. Ich beschloß also, ruhig abzuwarten.

Am nächsten Morgen um zehn Uhr sollte der Wettbewerb beginnen. Als erster war der Schweizer Pianist Edwin Fischer dran; er spielte den ersten und zweiten Satz des Rubinstein-Konzertes (die Jury hatte den dritten Satz gestrichen). Unter Vorsitz von Glasunow nahm die Jury die beiden vorderen Reihen ein; sie bestand aus zwölf Professoren der verschiedenen Kaiserlich-Russischen Konservatorien. Ihr bedeutendstes Mitglied war die große Pianistin Annette Essipowa (die dritte Frau von Leschetitzky). Zu dieser frühen Stunde waren nur wenige Zuhörer da, und Fischer, der später berühmt geworden ist, klagte erbittert: »Bei jedem Wettbewerb ist der Erste von vorneherein erledigt. Alle warten auf die nächsten, um einen Vergleich zu haben.« Und er spielte denn auch mit einer gewissen Gleichgültigkeit.

In dem formal streng klassischen Konzert von Rubinstein finden sich einige hübsche melodische Passagen. Es möchte groß scheinen, wirkt aber nur schwülstig, und so läßt sich das Konzert allein mit Schwung und Feuer glanzvoll bewältigen. Die Teilnehmer dieses ersten Tages besaßen zwar ausreichende technische Fertigkeiten und Kraft, wiesen aber weder Schwung noch Feuer auf.

Diederichs sagte mir abends, die Polizei habe sich nicht nach mir erkundigt. »Man hat Sie vergessen«, meinte er, und wir gingen in guter Stimmung essen.

Am nächsten Nachmittag war ich an der Reihe, das Konzert vorzutragen. Am Vormittag hatten etwa fünf Pianisten gespielt, doch war die Atmosphäre der ganzen Veranstaltung immer noch recht lasch, das Publikum reagierte kühl. Ich hatte nichts gegessen, nur am Büffet zwei Tassen Kaffee getrunken, meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt - schließlich sollte ich zum ersten Mal im Leben an einem Wettbewerb teilnehmen! Und ich hatte es auch abgelehnt, mit dem Orchester zu probieren, in der Annahme, eine unvorbereitete Darbietung würde spontaner klingen.

Ich wurde aufgerufen; meine Finger waren Eiszapfen. Ich verbeugte mich anmutig, setzte mich und war nahe daran, ohnmächtig zu werden. Bei den ersten Akkorden des Konzertes jedoch war ich wie umgewandelt, ich war in Trance, ich spielte wie von einer unbekannten Gewalt gelenkt. Mein Spiel muß elektrisierend gewesen sein, denn die Zuhörer tobten, bevor ich mit der Kadenz noch zu Ende war. Nach der letzten Note brach donnernder Applaus los, das Publikum klatschte, brüllte, stampfte mit den Füßen. Die Jury stand auf und applaudierte. Ich fürchtete, der zweite Satz, eine reizende Romanze, würde mein Publikum abkühlen, aber nichts da, die Begeisterung ließ nicht nach. In der Pause kamen alle Mitglieder der Jury ins Künstlerzimmer, um mir zu gratulieren, und Glasunow sagte: »Mir war, als ob ich Anton Grigorjewitsch hörte!« Madame Essipowa küßte mich, und ich war im Himmel.

Diederichs führte Grostern und mich zum Essen zu Cubat, dem besten französischen Restaurant in St. Petersburg, und dort feierten wir bis in die späte Nacht. Allmählich vergaß ich Stolypin und die Polizei. Die Morgenzeitungen brachten schmeichelhafte Kritiken, und alle erwähnten, daß die Jury mich geehrt hatte.

Die restlichen Pianisten bewältigten das Konzert nicht besser als ihre Vorgänger. Hoehn spielte es minutiös, aber ohne Feuer. Die Komponisten - es waren insgesamt fünf - brachten am Tage vor


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