Der Versuch, kohärente und konsistente musiktheoretische Systeme zu entwickeln, führte
bei den Theoretikern des neunzehnten Jahrhunderts zum Aufbau von Theorien, die zwar
begrifflich kohärent waren, sich aber nur mit Mühe auf die musikalische Wirklichkeit
anwenden ließen. Vor allem die Betrachtung moderner oder außereuropäischer
Musik verdeutlicht, daß diese Systeme in zweierlei Hinsicht normativ waren: Sie
beschreiben eben nicht Gesetze der Musik an sich, sondern Eigenschaften eines
bestimmten Stils. Meist handelte es sich um die Wiener Klassik, und selbst hier
wurden an Beispielen theoretische Konstrukte vorgestellt, deren Gültigkeit oder
Verallgemeinerbarkeit auch in diesem stilistischen Bereich kaum als gesichert angesehen
werden kann.
2.2.3. Gegenstände und Methoden
Gegenstand musiktheoretischer Untersuchungen ist meist eine notierte Komposition. Die
musikalische Notation ist eine in jahrhundertealter Tradition entwickelte Form, Musik
für die klingende Ausführung festzuhalten. Sie bedarf aber der Ausführung durch
Musiker oder Apparate, um zu klingender Musik zu werden. Spätestens seit es Computer
gibt, die Musik mit hoher Genauigkeit abspielen können, hat sich gezeigt, daß die
rhythmische Umsetzung des Notentextes nach gleichmäßigen Schlägen und deren
Unterteilungen nicht ausreicht, um ein musikalisch ansprechendes oder auch nur
akzeptables Ergebnis zu erhalten. Die Interpretation durch einen Musiker unterscheidet
sich nicht nur zufällig, sondern auch substantiell von der sogenannten ›mechanischen‹
Ausführung.19
Es wurde häufig übersehen, daß die ästhetisch zentrale Form von Musik die klingende
Realisierung und ihre Wahrnehmung ist. Gerade rhythmische Feinheiten, die für die
Wirkung der Musik von großer Bedeutung sind, werden aber in Noten nicht
fixiert.
In unserer Notenschrift wird der Rhythmus auf der Basis eines Metrums dargestellt,
dem Hörer ist aber das notierte Metrum meist nicht bekannt, es sei denn, er
liest den Notentext oder sieht den Dirigenten. Der Hörer bildet das Metrum
aus den gehörten Ereignissen. In der westlichen Notation sind Rhythmus und
Metrum so eng verbunden, daß deren Trennung in der Musiktheorie meist nicht
durchgehalten wird, auch wenn sie, wie etwa bei Riemann, als richtig anerkannt
wird.20
Die Mehrzahl musiktheoretischer Arbeiten formuliert Theorien oder spezielle
Beobachtungen ausgehend von Notentexten und basierend auf der Introspektion
der Autoren. Der Ansatz der Introspektion wurde bereits bei Rameau
beschrieben21
und auch mehr als 120 Jahre später heißt es bei Riemann:
»Man muß diese Klangfolgen samt und sonders mit seinen eigenen Ohren
prüfen und [...] Ton-und Klangvorstellungen [...] durchdenken [...] . [Durch]
gewissenhafte Selbstbeobachtung während des Denkens können dann die Gesetzmäßigkeiten
gefunden werden.«22