Wahrnehmung und Produktion
der sog.
zeitlichen Mikrostruktur wieder besonders in den Mittelpunkt des Interesses
gerückt, weil die Verbreitung von Sequencer-Programmen ein neues Anwendungsfeld für
Theorien und Algorithmen der metrischen Interpretation und der automatischen Notation
bietet.
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Die Ausführung eines Musikstücks enthält gegenüber der Notation viele zusätzliche
Informationen durch Agogik und Dynamik. Daher stellt sich die Frage, ob nicht die
ausgeführte Musik Ausgangspunkt der Untersuchung musikalischer Phänomene sein
sollte, wie dies etwa Caroline Palmer vorschlägt:
»Performance is a better starting point than a
musical score for testing theories of many musical
behaviors.«105
Einerseits lassen sich viele musikalische Strukturen in der Notation leicht erkennen, die sich
nur aus der Ausführung nicht ohne weiteres bestimmen lassen. Andererseits gibt es
auch Strukturen, die in der Untersuchung von Musik häufig unberücksichtigt
bleiben, weil sie nicht unmittelbar in den Noten enthalten sind. Es gibt auch viele
computergestützte Anwendungen, bei denen die Notation nicht zur Verfügung steht. So
etwa bei improvisierter Musik, in vielen außereuropäischen Musikkulturen oder bei
Benutzereingaben in interaktiven Computerprogrammen. Es ist daher sinnvoll, je
nach Fragestellung die Partitur oder ihre Ausführung als Ausgangspunkt zu
wählen.
3.6.1. Struktur und Ausführung
Eine allgemein akzeptierte Hypothese ist, daß die Abweichungen des Interpreten von der
metrischen Sequenz dazu dienen, musikalische Intentionen, d.h. strukturelle und
emotionale Informationen, zu transportieren. Welche Arten von Abweichungen dabei
welchen strukturellen und emotionalen Intentionen entsprechen, ist Gegenstand
verschiedener Untersuchungen gewesen. Einen wesentlichen Einfluß auf die Interpretation
hat die Einteilung der Motive und Phrasen durch den Interpreten. Daß am Ende eines
formalen Abschnitts eine Verlangsamung stattfindet, entspricht der Erfahrung und ist
zumindest bei größeren Einschnitten oft deutlich hörbar. Es ist naheliegend, daß dies
auch für kleinere Einheiten gilt. Bereits Riemann beschreibt die Entwicklung eines
Motivs in Musikalische Dynamik und Agogik als ein Ansteigen und Abfallen der
Intensität und des Tempos:
»Mit dem crescendo der metrischen Motive ist stets eine
(selbstverständlich geringe) Steigerung der Geschwindigkeit der
Tonfolge und mit dem diminuendo eine entsprechende Verlangsamung
verbunden.«106
Diese Annahme entspricht auch heute dem Stand der Forschung und wird durch entsprechende
Daten gestützt. Repp konnte für einen Ausschnitt der Träumerei aus den Schumanns
Kinderszenen zeigen, daß sowohl für die Agogik in 28 Interpretationen als auch für die
ästhetische Bewertung durch Zuhörer eine parabolische Tempokurve ein gutes Modell
ist.107
Ein ähnliches
Modell wurde von Todd