- 173 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Fassung Schnebels einem "entmythologisierten Gebet" entspricht, beweist die Gestaltung der historischen Sprachen und der ihnen eingeschriebenen Antagonismen. Glossolalie kann als Versuch verstanden werden, den Namen Gottes durch die Gesamtheit seiner Erscheinungen zum Ausdruck zu bringen und somit die philosophische Frage nach der Bedeutung musikalisch zu lösen.


Allerdings ist die Adorno-Interpretation bei Schnebel durch die Einwirkungen der Schriften Blochs vermittelt und von ihnen bedingt. Einige Stellen aus der o.g. Gedenkrede seien hier zitiert, um diesen Sachverhalt zu erläutern. Schnebel weist dabei auf den Begriff informeller Musik zurück, jedoch deutet er ihn als "Zersprengung der musikalischen Struktur" und "Freisetzung von horizontal gerichteten Energien". 31) Er gibt somit der informellen Musik eine Wendung ins Energetische, die u.a. ihn zu dem Mißverständnis führt, die Haltung Cages mit der Position Adornos zu identifizieren - was übrigens die oben ausgeführte Kritik Adornos an Cage bereits ausschließen müßte. "Musique informelle - so Schnebel - läßt Musik zu dem werden, was sie materiell ist: schwingender Stoff, der sich in ständig neuen Gebilden verwirklicht." 32) Schnebel betrachtet das Problem der informellen Musik nicht als ein Problem der Form, sondern der Materie. Von Bloch stammt der Glaube an eine Materie als energetische Substanz, die von sich aus jeweils ihre eigenen Formen schafft. Während Adorno zwischen Form, Stoff und Materie unterscheidet, versteht Bloch unter Form "eductio formarum ex materia". Gemäß der aristotelischen Theorie wird die Materie von Bloch weder als Substanz noch als mechanische Regung noch als eigenschaftsloses Überbleibsel der Welt, sondern als Entelechia (Zielgerichtetheit) verstanden. Im Atheismus im Christentum definiert Bloch die Materie als "Baustoff", der sich vom bloßen "verdinglichten Klotz" unterscheidet, weil sie "das Substrat der noch `Dynamei on', des `In Möglichkeit-Seins" 33) darstellt. Da die Blochsche Kunstreflexion von der Expressionismus-Debatte ausgeht und die antiformale Neigung der Avantgarde um die Jahrhundertwende übersetzt, ist es nicht verwunderlich, daß in seiner Musikphilosophie die Kategorie der Form eine geringe Rolle spielt. Musik erscheint bei ihm zuerst einmal als Ausdruck der menschlichen Innerlichkeit, von formalen Fesseln frei, und zweitens als "reales Symbol" der Utopie. Zur Utopie wird sie als Theurgie, als Symbol werdender Traum, als Freisetzung der materiellen Energetik, da "das Hören des Tons ... eine Ähnlichkeit dieses Materials mit dem `Material' des unter Gott Bedeuteten zu konstituieren erlaubt". 34) Wenn dann Musik nach Adorno "der wie immer auch vergebliche Versuch, den Namen selber zu nennen", ist, gelingt ihr nach Bloch "die ganz andere Nennung eines Gottesnamens ... des so verlorenen wie ungefundenen". 35)


Die Priorität des "trouver" (Finden) vor dem "construer" (Durchgestalten), die eine der Grundlagen der Musikphilosophie Blochs bildet, wirkt auf die Prinzipien der Glossolalie in zweifacher Hinsicht. Formal besteht die Komposition aus einem Nacheinander von Teilen, die sich zwar auf mikrologische Anordnungen stützen, jedoch keinen großformalen Bogen spannen. Das Ausgehen vom unbearbeitet Konkreten, von historischen Sprachelementen erscheint zuerst als einzige Chance einer Musik, die irdisches und materielles Symbol der Befreiung sein will. Andererseits ist aber diese Gestaltung durch die Knappheit formeller Prinzipien


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