- 172 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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gen. Seine Werke entfalten nicht Negation und reflektieren nicht auf die Krise des Sinns, sondern heben sich von Sinn ab, sie zeigen ihm gegenüber ihre Gleichgültigkeit. Dadurch verfallen sie den gesellschaftlichen Mechanismen der Entsubjektivierung, jenen Mechanismen also, die Adorno als Widerstand gegen die informelle Musik empfand.


7. Die Rezeption der Adornoschen Musikphilosophie bei den Avantgarde-Komponisten ist eine so verwickelte Angelegenheit, daß sie sich kaum erörtern läßt, ohne in Widersprüche und Paradoxa zu geraten. Obwohl z.B. der Materialbegriff, der in den 50er Jahren zum Schlagwort geworden war, zweifelsohne von Adorno stammt, ist jedoch seine Herkunft in der positivistischen Wendung seiner Befürworter kaum erkennbar. Paradox ist weiterhin die Tatsache, daß die unbekannten Adressaten der Darmstädter Vorlesungen von 1962, d.h. Boulez, Stockhausen und Cage, diejenigen sind, die die Herausforderung einer informellen Musik am wenigsten angenommen haben. Komponisten dagegen, die in den 50er Jahren eher eine extraterritoriale Existenz führten, deren Werke aber in den 60er Jahren wachsende Bedeutung erlangten - wie etwa Ligeti, Schnebel und Kagel, rezipierten verschiedene Aspekte der Ästhetik Adornos. Relevant ist hier nicht die Genauigkeit oder die Treue dieser Rezeption, sondern die selbständige Weiterführung von Keimen, die in der Theorie angelegt waren. Die Adorno-Rezeption der Avantgarde ist von Mißverständnissen und Divergenzen gekennzeichnet, hört aber deshalb nicht auf, eine Rezeption zu sein. Als Beispiel dafür sei auf die Glossolalie von Dieter Schnebel eingegangen, die in ihrer Fassung von 1961 Th. W. Adorno gewidmet ist.


Glossolalie ist eine Vokalkomposition, die aber nicht irgendeinen dichterischen Text verwendet, sondern sich als Gegenstand die Sprache selbst wählt. Das Prinzip der Komposition ist - wie der Titel sagt - das theologische des Zungenredens. In der christlichen Tradition ist die Glossolalie ein ekstatisches, in unverständlicher Sprache an Gott gerichtetes Gebet oder Singen. Die Teilnehmer des Pfingstfestes beginnen nach dem Erhalten des Charismas in Glossemen zu reden, die zwar auf das Gesamtvermögen der historischen Sprachen rückführbar sind, aber hier unzusammenhängend, alteriert und bar jeglicher Bedeutung ausgesprochen werden. Wenn also die Widmung an Adorno nicht einfach als Hommage an einen Philosophen zu verstehen ist, dessen Theorien im Kreise der Avantgarde Resonanz genossen, sondern als expliziter Hinweis auf die ästhetische Position, so kann man vermuten, daß Schnebel hier das Projekt einer "nicht affirmativen Sprache" auszuarbeiten versuchte, deren philosophische Fundierung die Adornosche Negativitätstheorie hat. Die Nicht-Koinzidenz, ja die antithetische Stellung von diskursiver und musikalischer Sprache wurde von Adorno in einem Text von 1956 erläutert, den Schnebel kannte, wie manche Bemerkungen in seiner Gedenkrede zu Adornos Tod 29) bezeugen. Unter den Aspekten, die beide Sprachen unterscheiden, erwähnt Adorno in diesem Text den transzendent-theologischen: "Was sie (sc. die Musik) sagt, ist als Erscheinendes bestimmt und zugleich verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist entmythologisiertes Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens; der wie immer auch vergebliche menschliche Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen." 30) Daß die Glossolalie eine Art Gebet ist, liegt in dem theologischen und biblischen Sinn des Charismas. Daß sie in der


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