- 171 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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6. Eine der zentralen Folgerungen, die Adorno aus der Diagnose der musikalischen Situation um 1960 zog, ist, daß sowohl serielle als auch aleatorische Vorgänge in der Kunst die Depotenzierung des Subjekts bestätigen, welche sich bereits in der Gesellschaft vollzogen hat. In Parametern zu denken oder beliebiges akustisches Material in die Musik einfließen zu lassen, stellt eine "Entlastung" 24) der Subjektivität dar. Der Preis dieser Entlastung ist die Selbstnegation des Subjekts. In beiden Methoden hypostasiert man das Material als Wert an sich und übersieht, daß es nur durch die Vermittlung des musikalischen Subjekts zu dem geworden ist, was es heute ist. Adorno kritisiert die Auffassung des Materials als etwas rein Physikalisches und Prämusikalisches und erkennt in ihm eine historische "Tendenz", aus der der Komponist heraushören kann, was jeweils anwendbar ist. 25) Die Vorstellung einer monolinearen Vorwärtsbewegung des Materials und ihrer Verkörperung in einer Instanz, die dem Komponisten Diktate setzt, blieb keine unbestrittene Theorie: Sie wurde bereits in den 30er Jahren von Ernst Krenek als Beschränkung der kompositorischen Freiheit empfunden. 26) In der Nachkriegszeit erweist aber diese Theorie ein kritisches Potential: Sie ist die einzige, die sich konstruktiv der positivistischen Auffassung entgegensetzen kann, der Komponist arbeite mit einem neutralen, unbelasteten, puren Material.


Eine wichtige Unterscheidung ist dabei jene zwischen Stoff bzw. Inhalt und Material, die in der Ästhetischen Theorie endgültige Formulierung findet: Material ist "Was geformt wird. Es ist nicht dasselbe wie Inhalt; Hegel hat beides verhängnisvoll konfundiert. Man mag das an der Musik erläutern. Ihr Inhalt ist allenfalls, was geschieht, Teilereignisse, Motive, Themen, Verarbeitungen, wechselnde Situationen. Der Inhalt ist nicht außerhalb der musikalischen Zeit, sondern in ihr wesentlich und sie ihm: er ist alles, was in der Zeit stattfindet. Material dagegen ist, womit die Künstler schalten: Was an Worten, Farben, Klängen bis hinauf zu Verbindungen jeglicher Art bis zu je entwickelten Verfahrungsweisen fürs Ganze ihnen sich darbietet: Insofern können auch Formen Material werden; also alles ihnen Gegenübertretende, worüber sie zu entscheiden haben." 27) Beide Termini wurden von John Cage in eins gesetzt. Von der Zen-Philosophie ausgehend, sah er im Klang etwas, das von einer metaphysischen Aura umgeben ist. Diese exzentrische Auffassung des Klangs gestattete ihm, alle musikalischen Konventionen zu durchbrechen und, ungeachtet jeder Tradition, für die Abschaffung der Naturbeherrschung in der Musik, also für den musikalischen Fortschritt zu operieren. Adorno hält diese Bestrebungen für Demonstrationsgegenstände, Signale für das wachsende Bewußtsein der informellen Musik. Jedoch ist damit ihr Ideal noch nicht erreicht. In diesen Bestrebungen taucht die falsche Ideologie der ersten Natur wieder auf: "Cage, und sicherlich viele seiner Schüler, begnügen sich mit der abstrakten Negation in Séancen, von denen Fäden sich spinnen zu Steiner, zur Eurhythmie, zur lebensreformerischen Sekte ... Abstrusität degeneriert zur Ideologie und zum kunstgewerblich Leeren, wo ihre Aktionen ästhetisch bleiben und dadurch eben dem Kriterium von Sinn - und Kultur ist zum Guten und Schlechten der Inbegriff des Sinnvollen - sich unterwerfen, das sie herausfordern." 28) Gerade die negative Poetik Cages, die den Prämissen der informellen Musik am nächsten zu kommen scheint, steht dem Negativitätsbegriff Adornos diametral entge-


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