- 168 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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ahnte, aber nicht zu präzisieren wußte. Die Darmstädter Vorlesungen können als Entwurf einer Geschichte der Farbe in der Musik von Bach bis zu unseren Tagen verstanden werden. Dabei geht Adorno allerdings von der Kritik an einer Voraussetzung der seriellen und postseriellen Musik aus: Die Gleichberechtigung aller Dimensionen des Tons. Adorno hält die ungleichmäßige Entwicklung der Parameter für unüberwindlich und erläutert historisch den unterschiedlichen Stellenwert der Klangfarbe. Er konstruiert dazu eine Denkfigur, die sich in Extremen polarisiert: Klang und Struktur bzw. Farbe und musikalische Substanz. Das Streben nach der Einheit beider Extreme hat nach Adorno in der Musikgeschichte eine außerordentliche Rolle gespielt: In der Wiener Klassik ist die Farbe Ereignisträger, während die wahre Substanz die motivisch-thematische Arbeit ist; erst bei Berlioz rückt die koloristische Dimension in den Vordergrund, allerdings auf Kosten der Thematik, die in einem primitiven Stadium stehenbleibt.


Das Problem der Einheit von Klang und Struktur ist von der Neuen Musik geerbt worden. Während Adorno in der Philosophie der Neuen Musik die Verräumlichung im Gegensatz zum zeitlichen Fortschreiten und zur entwickelnden Variation als Merkmal der französischen Musik - von Debussy, Ravel, Satie und Strawinsky - darstellte, setzt er hier mit Beobachtungen über das Verhältnis von Klang und Struktur bei Schönberg an. In seiner Kammersymphonie in E-dur versucht Schönberg, die Identität dieser beiden Momente durch eine Strukturveränderung der Instrumentation zu erreichen. Die traditionelle Gewichtsverteilung zwischen Instrumentalgruppen wird umgekehrt: Die fünf Solostreicher führen ein Schattendasein gegenüber den zehn durchdringenden Bläsern, die das Übergewicht gewinnen. Die Kammersymphonie sowie die Orchesterstücke op. 16 bezeugen nach Adorno, daß Schönberg Kritik an dem atmosphärischen und homogenen Orchester der Spätromantik übte, indem er die Farbe als strukturbildendes Element verwendete. Diesen Drang zur Emanzipation hat die Farbe in dem seriellen Postulat der Gleichberechtigung bewahrt. Adorno sieht allerdings in der Maxime Stockhausens "es gibt keine Tonhöhe ohne Klangfarbe und keine Klangfarbe ohne Tonhöhe" eine gefährliche Einschränkung. Der Farbe kann nicht dasselbe Recht der Tonhöhen zugesprochen werden; sie muß immer in Zusammenhang mit der Konstruktion gedacht werden. Wenn man von Emanzipation der Farbe redet, kann das nur heißen, daß die Farbdimension produktiv geworden ist. Als Beispiel nennt Adorno den Marteau sans maitre von Boulez, in dessen Finalsatz die unverwechselbare Farbe des Tam-Tams - bis dahin ausgespart - den Eindruck des Schliessenden erweckt: Das Erscheinen dieser Farbe bestimmt die Form des Werks.


Die Komposition, die laut Adorno mit der Auffassung der Farbe als selbständige Dimension am weitesten gegangen ist, ist Atmosphères von Ligeti. Hier ist Farbe etwas Absolutes, die Klangimagination gewinnt über die Struktur die Oberhand und wird produktiv: "Dabei ist wichtig, daß Ligeti, vielleicht ohne volle theoretische Rechenschaft davon zu geben, die Schranke, die dem produktiven Klang durch seinen synsemantischen Charakter aufgelegt ist, durchbrach, indem er wirklich das Paradoxon einer Musik ohne Töne, nämlich ohne irgend unterscheidbare fixierte Tonhöhe zustande brachte." 21) Was hier Adorno nicht sagt, was man aber folgerichtig hinzufügen könnte, ist, daß dieser Grenzfall einer


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