- 167 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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und deckt sich schließlich mit der Statik der Gesellschaft. Eine gänzlich verwaltete Welt täuscht in ihrer Unbeweglichkeit Freiheit vor durch fiktive Dynamik: "Konkreter heißt Dynamik, in der Geschichte bis heute, zunehmende Beherrschung äußerer und innerer Natur ... Indem sie das Viele reduziert, potentiell dem beherrschenden Subjekt gleichmacht und dem, was ihm an gesellschaftlichen Instanzen entspricht, verkehrt Dynamik sich selbst ins Immergleiche, in Statik." 15)


In seiner Kritik an der Verräumlichung der musikalischen Zeit stellt Adorno eine Strukturanalogie mit dem gesellschaftlichen Prozeß her. Zu rekonstruieren wäre eine Dynamik, die im Unterschied zu jener der spätindustriellen Gesellschaft den Einzelnen nicht zu einem bloßen Artikel reduziert, der dem Ganzen, dem Statischen, untergeordnet ist, sondern von seinen Impulsen und Bedürfnissen ausgeht, um ihn in einer nicht zwanghaften Totalität aufzuheben. Das Projekt einer informellen Musik ist das einer Form, in der Einzelereignisse eine solche zeitliche Tendenz aufzeigen, die für die ganze Struktur verbindlich ist. Diese Form vermag sich der wachsenden Pseudomorphose an die Malerei entgegenzusetzen. Die streng seriellen Formen, die mobilen Formen und die Gruppenkompositionen sind derart gestaltet, daß das Aufeinanderfolgen ihrer Ereignisse nicht einem Prinzip organischer Gesetzmäßigkeiten untergeordnet ist. Die Elemente artikulieren keinen Sinnzusammenhang, sondern finden ihren funktionalen Stellenwert innerhalb der Gesamtkonstruktion. Daraus ergibt sich aber, daß die Sukzessionsverhältnisse de facto abgeschafft werden: Es gibt keine innere Zeitlichkeit mehr, die den Fortgang der Musik eindeutig bestimmt, sondern die Zeit wird "geplant, disponiert, von oben her organisiert, wie einst nur visuelle Flächen". 16)


Im Laufe der 60er Jahre gewann Adorno die Überzeugung, das Problem der Zeit sei die entscheidende Frage der musikalischen Situation. Er brachte dieses Problem ständig im Zusammenhang mit dem der "musiksprachlichen" Artikulation oder - in ästhetischer Terminologie ausgedrückt - der "Stimmigkeit". Das Sollen der musique informelle weist auf eine zeitliche und kausale Logik hin, die anders als die konventionelle geartet ist: "Begriffe wie Logik oder gar Kausalität, deren die Ordnungsfreude notwendig sich bedient, mit denen aber auch die Konzeption einer musique informelle nicht tabula rasa machen kann, walten im Kunstwerk nicht wörtlich, nur modifiziert. Insofern in dessen Elementen allemal solche der Realität wiedererscheinen, spielen immer auch Logik und Kausalität herein, eher wie in Träumen." 17)


5. Zwischen 1965 und 1966 beschäftigt sich Adorno, wahrscheinlich von den Klangflächenkompositionen von Ligeti angeregt, intensiver mit dem Verhältnis von Musik und Malerei. Diese Beschäftigung bildet das zweite Stadium der Reflexion auf die Verräumlichung der Musik. Sie ist in den Aufsätzen Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, 18) Die Kunst und die Künste 19) und in den Darmstädter Vorlesungen von 1966 mit dem Titel Die Funktion der Farbe in der Musik 20) dokumentiert. In diesen drei Arbeiten greift Adorno nicht nur das Problem der Synästhesie und der Verschmelzungen verschiedener Kunstgattungen auf, sondern versucht, jenen Wahrnehmungswechsel in der Musik zu begründen, den er in dem Aufsatz über die musique informelle zwar


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