- 169 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Musik "ohne Töne" nur deshalb entstehen konnte, weil Ligeti in seiner Kritik an dem seriellen System an der genetischen Differenz der Parameter festhielt. Eine Geschichtsauffassung, die die Vergangenheit nicht als etwas Abgeschlossenes, sondern in der Gegenwart Überdauerndes betrachtet, erlaubt es ihm, über die Enge des Serialismus hinauszugehen. Anstelle des Versuchs, Statik durch die virtuelle Mobilität vieldeutiger Formen oder die Expansion der Musik in den realen Raum zu überwinden, begann Ligeti mit einem "imaginären Raum" zu arbeiten, dessen Realisierung eben der produktiven Gestaltung der Farbe zu verdanken ist.


Die Übereinstimmung mit dem Denken Adornos erschöpft sich aber bei Ligeti nicht in der Vorstellung eines imaginären Orts der Musik, also - in der Sprache Adornos ausgedrückt - der Vorstellung des Scheincharakters der Musik. Der Materialbegriff, mit dem Ligeti Musik dachte, hat mit der kruden Materie, über die die seriellen Komponisten zu verfügen glaubten, nicht das geringste zu tun. Vielmehr zeigt er Gemeinschaften mit dem Materialbegriff Adornos, vor allem mit der Idee der im Material sedimentierten Geschichte. In verschiedenen Stellen der Werke Ligetis der späten 50er und 60er Jahre tauchen Elemente auf, die der kompositorischen Anlage fremd sind und ihren eigentlichen Ort in einer anderen Zeit haben. Räumliche Perspektiven können auch historische Perspektiven bedeuten, wenn man die Geschichte als "aufgespeicherte und vergegenwärtigte Zeit" 22) betrachtet: Der imaginäre Raum geht somit in eine imaginäre Zeit über. Dazu ein Beispiel aus dem zweiten Teil von Apparitions von 1959. Nach einem bruchstückhaften und krampfartigen Ausbruch der Streicher (Abschnitt "Wild") zeichnet die Trompete - einzige solistische Episode der Komposition, die sonst aus einer mikrologischen Verteilung des Materials auf Instrumentalgruppen besteht - eine kurze, zarte Figur mit großen Septimen und kleinen Nonen. Diese Figur wird von Horn und Posaune wiederholt, um dann auf eine zweite Trompete überzugehen, die hinter das Publikum gesetzt ist, und verschwindet schließlich mit einem schwachen Echo in der Ferne. Es ist ein expressiver Gestus, der bei Mahler seinen Ursprung hat, der aber durch die Erfahrung der Orchesterstücke op. 6 und 10 von Anton Webern hindurchgegangen ist. 23)


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