- 166 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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entlang komponiert ist, den man von Anfang bis Ende mitverfolgen muß, um das Ganze zu verstehen - wenn also keine dramatische Form mit Exposition, Steigerung, Durchführung, Höhepunkt- und Finalwirkung vorliegt (keine geschlossene Form), sondern wenn jeder Moment ein mit allen anderen verbundenes Zentrum ist, das für sich bestehen kann". 10) Diese Berührung der Momentform Stockhausens und der Adornoschen Vorstellung einer musique informelle bleibt jedoch transitorisch. In einer Darmstädter Diskussion von 1966, an der Adorno, Rudolph Stephan, György Ligeti und Herbert Brün teilnahmen, zeigt Adorno eine völlige Übereinstimmung mit der These Ligetis, es gehe nicht so sehr um die Alternative zwischen Seriellem und Aleatorischem, sondern um den Verlust des Vektorcharakters, der Richtungskonstante der Musik. Da nämlich die Musik in der Zeit verläuft, kann kein Ereignis gegenüber der zeitlichen Bewegung gleichgültig oder sogar konträr sein. Die musique informelle, als eine Musik mit möglichst vielen Relationen, war bereits implizite Kritik an den Formen, die keine Entwicklungrichtung aufzeigen, die die Zeit, die Dauer durch "die Konzentration auf das Jetzt", "die Zeitlosigkeit" 11) zu überwinden streben.


4. Die Zeitlichkeit in der Musik wiederherzustellen, das war für Adorno die primäre Aufgabe der musique informelle. Es handelt sich nicht nur um ein kompositionstechnisches Problem, sondern vor allem um ein ästhetisches: Zu schaffen war eine Musik, die die ästhetische Dimension vor der Reduktion der Kunst auf die Empirie bewahren konnte. Das war nur möglich, wenn man an der Differenz zwischen empirischer Zeit - also chronometrischer Dauer, meßbarer Zeitordnung - und ästhetischer Zeit festhielt. In den Kompositionen der Nachkriegszeit - bei Cage wie bei Stockhausen - vollzog sich eine Gleichsetzung beider Ebenen, die von der abstrakten Utopie der Suspendierung von Zeit diktiert war. In dieser Wende sah Adorno eine Tendenz in der Musik des 20. Jahrhunderts sich bestätigen, die von Debussy und Strawinsky ausging: Die Tendenz zur Verräumlichung der Musik, ihre "Pseudomorphose an Malerei". 12) In diesem Prozeß gewann der temps espace gegenüber dem temps durée die Priorität. 13) Was aber bei Debussy mit dem "poetisch-auratischen Wesen" 14) der impressionistischen Malerei seiner Zeit im inneren Zusammenhang stand, erhielt bei Strawinsky objektivistische Züge; damit ging aber die subjektive Dimension der Zeiterfahrung verloren. In der Nachkriegszeit wurde die Tendenz richtungbestimmend, indem sie von dem Mythos der totalen Vernunft Nahrung bekam. Das Ideal der musikalischen Freiheit büßte an Konsistenz ein zugunsten der Meßbarkeit und Organisation. Diese Situation bezeugen viele Kompositionen jener Zeit, in denen sich aus einer universalen Dynamik Statik ergibt.


In dem Aufsatz Über Statik und Dynamik soziologischer Kategorien (1961) erarbeitet Adorno im Bereich der Soziologie eine Dynamik, die für den Begriff musique informelle Relevanz hat. Mit der Dialektik von Statik und Dynamik läßt sich die Verkettung von Informellem, dessen Inbegriff Freiheit ist, und Zeit beschreiben. Wenn man Freiheit als Strömen des Unbedingten denkt, scheint sie auf Anhieb in der Dynamik sozialer Elemente zu liegen. Die Dynamik aber wird in dem Prozeß der Aufklärung zur Funktion der rationalen Beherrschung der Natur. In diesem Prozeß negiert Dynamik die Erinnerung, die qualitative Erfahrung mit den Dingen


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