- 165 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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nössische Malerei. Dies würde für eine Übereinstimmung mit der in jenen Jahren von Umberto Eco diskutierten Poetik des offenen Kunstwerks sprechen. Eco sah in Werken wie dem Klavierstück XI von Stockhausen, Scambi von Pousseur, der Dritten Sonate von Boulez und Sequenza I von Berio eine Tendenz der Kunst, die zur Sprengung der geschlossenen Form trieb. In diesen Werken vollzieht sich nämlich die Überwindung aller Regeln, die die musikalische Entwicklung der Komposition auf eine einzige Richtung festlegt: Statt der Eindeutigkeit des herkömmlichen musikalischen Sinnes behauptet sich die Mehrdeutigkeit mobiler Formen. Darin lag nach Eco die Konvergenz mit der informellen Malerei. 6) Der von Adorno adaptierte Terminus informell könnte somit theoretische Implikationen vortäuschen, die nicht vorhanden sind. Der Terminus ist nicht irgendeiner existierenden künstlerischen Richtung zuzuordnen, sondern stellt ein "Sollen" 7) dar. Mit informell beabsichtigte Adorno, die Entwicklungsmöglichkeiten einer Musik aufzuzeigen, die sich von der schlechten Allgemeinheit musikalischer Gesetze befreien will. Das Wort "informell" bezeichnet eine Musik, "die alle ihr äußerlich, abstrakt, starr gegenüberstehenden Formen abgeworfen hat, die aber, vollkommen frei vom heteronom Auferlegten und ihr Fremden, doch zwingend im Phänomen, nicht in diesen auswendigen Gesetzmäßigkeiten sich konstituiert". 8) Der Begriff musique informelle entspricht also einem Ideal, an dem sich die Neue Musik ausrichten soll, wenn sie nicht der trügerischen Alternative von rigider Form und Formlosigkeit unterliegen will. Der Ausweg wäre nach Adorno ein Tertium zwischen falscher Allgemeinheit und Verabsolutierung des Einzelnen, das Paradox einer "nicht formalen Form".


In einer Konversation zwischen Stockhausen und Adorno, die am 22. April 1960 vom Hessischen Rundfunk mit dem Titel Widerstand gegen die Neue Musik gesendet wurde, umschreibt Adorno die Problematik, die ein Jahr später zur Konzeption einer musique informelle führen wird. Der Akt des Hörens bei der seriellen und postseriellen Musik entspricht nicht mehr einem Mitvollzug von Ton zu Ton, von Motiv zu Motiv, vom Einzelelement zur Formtotalität, wie es in der Musik der Tradition geschah, für die ein Mitkomponieren beim Hören angebracht war. Diese Musik läßt sich eher mit "einem Blick auf das Ganze" wie bei der Betrachtung eines Bildes wahrnehmen. Diese Strukturveränderung des Hörens ist von Adorno in Vers une musique informelle wie folgt beschrieben: "Indessen habe ich auf die meisten jener Werke qualitativ anders angesprochen als auf die der gesamten Entwicklung, welche bis zum letzten Webern reicht und ihn wohl einbegreift. Meine produktive Einbildungskraft vollzieht sie nicht ebenso mit; ich vermöchte sie nicht mitzukomponieren wie noch das Streichtrio von Webern, gewiß gar kein zu simples Stück." 9)


Im Rundfunkgespräch zeigen sich gewisse Übereinstimmungen zwischen Adorno und Stockhausen bezüglich dieser neuen Hörsituation. Das Konzept einer "unendlichen Form", das Stockhausen gerade um 1960 ausarbeitete, entwickelt sich aus dem Problem, wie Sinnzusammenhänge zu stiften sind, in denen bestimmte Momente mit gemeinsamen Charakteren aufeinander folgen können, ohne ihr individuelles Profil zu verlieren. Nach Stockhausen wird die Frage nach kausal-logischen Zusammenhängen überflüssig, wenn eine Komposition - wie er in einer anderen Sendung 1960 sagte - "keine durchlaufende Geschichte erzählt, nicht an einem `roten Faden'


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