- 156 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillegung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit. Er nimmt sie wahr, um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen; so sprengt er ein bestimmtes Leben aus der Epoche, so ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk. Der Ertrag seines Verfahrens besteht darin, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben. Die nahrhafte Frucht des historisch Begriffenen hat die Zeit als den kostbaren, aber des Geschmacks entratenden Samen in ihrem Innern." 35)


Legen wir einmal die These vom Kunstwerk als Monade, in der sich geronnene Geschichte manifestiert, zugrunde, so wird Weberns Musik in einem neuen Licht erscheinen. Ich darf noch einmal an Kaufmanns Analyse der BACH-Figur in der ersten Bagatelle aus op. 9 erinnern. In der wunderbar durchdachten symmetrischen Anlage dieser 10 Takte kündigt sich schon Weberns Grundkonzeption an. Diese Miniatur ist nicht allein zu begreifen als Psychogramm eines geschockten Einsamen (dieser Zustand mag der Komposition vorausgegangen sein), sondern eben auch als Annäherung an eine Idee sinnstiftender Ordnung. Denken wir dann noch einmal zurück an Weberns op. 28. Eine Reihe, ein musikalisches Modell mit einem Höchstmaß an inneren Zusammenhängen, das zugleich eine Gesamtstruktur vorwegbestimmt, das Erfinden einer Musik, in der jedes Element zugleich Essenz als auch Permutation dieser Essenz ist, stellt sich mir dar als höchste Vollendung musikalischen Denkens, damit auch als höchste Form der Funktion von Musik, wird doch in dieser absoluten Funktion das Kunstwerk selber zur Idee, zur Monade. Weberns Verdichtung zum Wesentlichen hin hat zwangsläufig die Kürze von Musikwerken zur Folge. In ihr schmilzt eine ganze Welt in einen Augenblick zusammen, in dem nicht die Zeit zum Stillstand kommt, sondern in dem pluralistische Zeitgestaltung im Augenblick erfahrbar wird. Hier wird Variation nicht zum Leerlauf, sondern Offenbarung einer pluralistisch zu erfahrenden Wahrheit. Adornos Schweigen und Verstummen, deren er die Musik Weberns bezichtigt, ist nicht Ausdruck von Verlöschen und Sprachlosigkeit, sondern Sprache der Idee selbst. Verstummen als tödlicher Akt, als Tod selbst schlägt um in die Vision von Ewigkeit. In dieser Vorstellung gleicht Weberns Musik - speziell sein Spätwerk - der Bachschen `Kunst der Fuge'. Die Schwierigkeit Adornos, Weberns Musik einzuordnen, liegt darin, daß er in Zugzwang seines eigenen Systems gerät. Er vergewaltigt Weberns Musik; er lastet ihr Unstimmigkeit an, damit seine Theorie der `Negativen Dialektik' stimmig bleibt. Trotzdem sucht Adorno auch einen Ausweg aus der totalen Negation, nämlich in seiner `Negativen Utopie'. Er bringt den Gedanken der "Versöhnung des Widerspruchs der Realität" ein. Er geht aus von der Idee, daß der Mensch qualitativ verändert werden müsse und daß die "Chiffre des Leidens zur Veränderung aufruft" (Sziborsky). Neue Musik spiegelt das Leiden der Menschen, das nur von einem Utopischen erlöst werden kann: Diese Utopie wird bei Adorno doppeldeutig. Im gesellschaftskritischen Bezug bedeutet Erlösung Befreiung des Menschen vom Zwang der Entfremdung. Auf der anderen Seite verlegt Adorno die Erlösung in den Bereich des Transzendenten. "Das bedeutet", schreibt Sziborsky in ihrem Buch "Adornos Musikphilo-


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