- 157 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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sophie", "daß Versöhnung nicht als innerweltlich in Geschichte sein kann; bräche das Transzendente in Geschichte ein, so setzte es ihr ein Ende in einem geschichtlichen `Nichtseienden'. Unter dieser Perspektive gewinnt das implizierte `Wir' der Musik den Sinn, daß der Mensch, wie die `Ästhetische Theorie' zu verstehen gibt, durch die ästhetische Erfahrung hindurch in einen Bezug zum Transzendenten eintritt, das als das ganz Andere, Unbedingte, jedoch Unerkennbare mehr ist als die Faktizität des `Wirklichen'. Es ist aufgehendes und sich entziehendes Licht ineins. Mit Adorno gesagt: Im Angesicht der Verzweiflung `erführe der Mensch das Andere, das `Niegewesene', von dem er nicht wissen kann, ob es `existiert oder nicht'. 36) Inhalt von Adornos `Negativer Utopie' ist die Tatsache, daß die Neue Musik einerseits in ihrer Wahrheit die Position des radikalen Widerspruchs einnimmt, andererseits auf die Versöhnung des Widerspruchs der Realität abzielt. Weberns Musik steht allerdings nicht in diesem von Adorno gemeinten Widerspruch zur Realität, weil sie sich mit dem Leiden der Menschen identifiziere, sondern weil sie eine Gegenwelt entwirft, die Erlösung vom Leiden wähnt. Damit wird seine Utopie widerspruchsfreier; ihre Einbettung in Blochs `Ästhetik des Vor-Scheins' oder in Marcuses `Versuch über die Befreiung'wäre problemloser vorstellbar.


Adorno und Webern waren Zeitgenossen. Sie durchlebten beide gemeinsam Epochen unseliger Geschichte. Adorno - in einem behüteten Elternhaus mit hohen ethischen und ästhetischen Ansprüchen aufgewachsen - erlebt zwar zunächst, wie auch Webern, den Nationalsozialismus ziemlich unbefangen, wird aber durch die folgende unmittelbare existentielle Bedrohung immer verletzlicher gegen verletzte Menschlichkeit und menschenunwürdiges Behandeltwerden. Brutalität und Gewalt, Vertreibung aus der Heimat, Judenmord - dies alles sind Erfahrungen, die Adorno betroffen machen, ihn erschüttern und die umschlagen in Kritik und Protest. Der äußeren Emigration nach England und USA während der Nazizeit folgt die innere Emigration Adornos während der Studentendemonstrationen der 60er Jahre, der er ja dann auch erlegen ist. Alle Vorbehalte berücksichtigend, daß Biographie und geistiges Schaffen nicht unbedingt kongruent sein müssen, vermute ich, daß Adornos Theorienbildung wesentlich durch die negative Sublimierung seines Lebensschicksals geprägt war, in dem er keine Erlösung für sich selbst erblickte.


Weberns Schaffen dagegen haftet m. E. stets etwas Visionäres an. Ich meine nicht seinen Hang zum Mystischen und Pantheistischen, sondern seinen Drang zu naturwissenschaftlichen und mathematischen Spekulationen. Auch er verkennt zunächst die Greuel des Nationalsozialismus; als er sie aber - auch durch unmittelbares Betroffensein - erkennt, läßt er sie auf merkwürdige Weise an sich abstreifen. Es scheint, als sei Webern auf glückliche Weise unberührt gewesen von allen Wirrnissen realen Lebens, hingegen versponnen und konzentriert auf das, was sich in seinem Innern vollzog. Hubert Stuppner hat zur Psychologie des Schaffens bei Webern einen eigenwilligen, jedoch interessanten Beitrag geliefert. Er glaubt, in Weberns Charakterstruktur Anzeichen von Anankasmus (Zwangsneurosen, Zwangsvorstellungen) entdeckt zu haben. Er führt sie zurück auf eine überstarke Ängstlichkeit Weberns, die von einer intensiven Mutterfixierung herrühren. Wir wissen, daß Webern sich 1913/14 einer psychotherapeutischen


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