- 155 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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stand. Zum Stillstand bringt sie aber auch die Komposition als solche." 32) Adornos Kritik an Weberns Musik richtet sich vornehmlich gegen die Kürze der Webernschen Stücke, die Kürze, die keine Entwicklung duldet, die die Zeit zusammendrängt, die den musikalischen Ausdruck zur Geste zusammenzieht und im Einzelton staut, sodaß nur der reine Laut übrigbleibt, die Kürze, die in reiner Subjektivität gipfelt, die Kürze, die die destruktive Zerrissenheit der Struktur bedeutet. Schließlich ist es die Auflösung des Kontrapunkts bei Webern, gegen die Adorno sich wendet: "Die Auflösung des musikalischen Materials in fortschreitender Differenzierung läßt dessen Elemente sichtbar werden: im bloßen Ton neigt Musik sich in ihren Ursprung. Indem der Kontrapunkt so dicht sich schürzt, daß er bloß noch die Töne gegeneinander tupft, endet er als Kontrapunkt: im 1. Satz der Sinfonie mit seinen kanonischen Verschlingungen treten deren isolierte Töne zum Melos zusammen." 33) Und eine letzte, wie mir scheint wesentliche Bemerkung Adornos betrifft Weberns musikalischen Ausdruck, der zu dem des Verstummens wird, da er die Idee der Entsinnlichung in sich trägt. "Der absolute Laut der Seele, mit dem sie ihrer selbst innewird als bloßer Natur, ist seiner Musik Gleichnis für den Augenblick des Todes. Sie stellt ihn vor nach jener Überlieferung, welche die Seele, flüchtig und ephemer, aus dem Körper wie einen Falter entflattern läßt. Sie ist Grablegende. Weberns Ausdruck ist die Obsession mit der Nachahmung des Geräuschs eines Körperlosen. Das absolut Vergängliche, der tonlose Flügelschlag gleichsam, wird dieser Musik zum schwächsten, doch beharrlichen Siegel der Hoffnung. Verschwinden, Vergängnis selber, die in nichts Seiendes mehr sich festmacht, ja, nicht mehr einmal sich selbst vergegenständlicht, wird ihr zur Zuflucht der schutzlos preisgegebenen Ewigkeit." 34)


Der Fülle negativer Urteile der Musik Weberns steht eine Fülle von Bewertungen und Analysen gegenüber, die eine andere Richtung aufweisen. Aus der Summe der erschlossenen Analysen und aus meiner eigenen Überzeugung heraus ziehe ich den Schluß, daß Weberns Musik an sich nicht unstimmig ist. Adorno hat sie m.E. nicht zunächst wertfrei betrachtet, sondern sie im Spiegel seiner Theorie der `Negativen Dialektik' verzerrt. Seine Grundhaltung, die etwa in dem Satz gipfelt: "Denn wahr ist nur, was nicht in diese Welt paßt" (Ästhet. Theorie) macht ihn einer offenen Analyse gegenüber sektiererisch und halbherzig.


Benjamin sagte einmal, daß das Wesen der Kunstwerke das ihrer Interpretation sei. Ausgehend von seiner materialistischen Geschichtsauffassung möchte ich gern einen neuen Aspekt der Beurteilung von Kunst (Musik) andeuten und dies an Weberns Musik versuchen.


Benjamin hat seine Geschichtsauffassung in der 17. These seiner Abhandlung "Über den Begriff der Geschichte" niedergeschrieben. Er unterscheidet die Geschichtsauffassung und -schreibung des Historikers, der in additivem Verfahren historische Fakten aneinanderreiht, von der materialistischen Geschichtsschreibung. Ihr liegt, so sagt Benjamin, ein konstruktives Prinzip zugrunde. "Zum Denker gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillegung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert. Der


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