- 154 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (153)Nächste Seite (155) Letzte Seite (186)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



im Bilde fast ausschließt. Je mehr die allmächtige Kulturindustrie das erhellende Prinzip an sich reißt und in Menschenbehandlung zugunsten des fortbestehenden Dunklen verderbt, umsomehr tritt Kunst in Gegensatz zur unwahren Helle, setzt dem omnipotenten Zeitstil des Neonlichts Konfigurationen jenes verdrängten Dunklen entgegen und hilft zur Erhellung einzig noch, indem sie die Helligkeit der Welt bewußt ihrer eigenen Finsternis überführt. Erst einer befriedeten Menschheit würde die Kunst absterben: ihr Tod heute, wie er droht, wäre einzig der Triumph des bloßen Daseins über den Blick des Bewußtseins, der ihm standzuhalten sich vermißt." 29) Angesichts der Entzweiung des Subjekts mit sich selbst, angesichts der Dissoziation Subjekt und Gesellschaft, angesichts einer kranken und desolaten Realität auf Grund von Massenmord und Klassenherrschaft (Nach Auschwitz kann man keine Gedichte mehr schreiben) kann eine Kunst, eine Musik nicht Stimmigkeit produzieren, sondern selbst nur Dissoziation. Diese These schlägt sich nieder in der Beurteilung der radikalen Neuen Musik, jener Musik, die Atonalität und Zwölftontechnik als Kennzeichen trägt. Ich will einige Urteile Adornos zusammentragen, aus denen die negative Einordnung der Neuen Musik, vor allem auch Weberns, hervorgeht. Die Kurzformen und Miniaturen der expressionistischen Phase waren zunächst Adornos Angriffspunkte. Für Adorno waren sie die `seismographische Aufzeichnung traumatischer Schocks', die zugleich das Formgesetz für Musik wird. Es verbietet Kontinuität und Entwicklung. Die musikalische Sprache polarisiert sich nach ihren Extremen: "nach Schockgesten, Körperzuckungen gleichsam, und dem gläsernen Innehalten dessen, den Angst erstarren macht". 30) Die expressionistische Musik ist eine Musik des Einsamen, in dessen Vereinzelung die Gesellschaft sich spiegelt. Wir kennen den Vorwurf Adornos gegen die stillgelegte, die gestaute Zeit in der Zwölftontechnik. Ebenso radikal verfährt Adorno mit der Zwölftontechnik selbst. "Das Mißlingen des technischen Kunstwerks aber ist nicht bloß eines vor seinem ästhetischen Ideal, sondern eines in Technik selber." 31) Da, wo das Ornamentale an einem Kunstwerk entfällt, all das, was keine Funktion hat, erhält das Kunstwerk lediglich die Funktion, das Dasein zu übersteigen. Sein Schicksal: das vollkommen funktionale Kunstwerk wird zum funktionslosen. Schließlich sei noch ein Zitat Adornos zur Variationstechnik innerhalb der Zwölftonmethode hinzugefügt. "Die Zwölftontechnik ist aus dem echt dialektischen Prinzip der Variation hervorgegangen. Es hatte postuliert, daß die Insistenz beim immer Gleichen und dessen fortwährende Analyse beim Komponieren - alle motivische Arbeit ist Analyse, teilt das Gegebene ins Kleinste auf - das unablässig Neue ergeben. Durch Variation transzendiert das musikalisch Gesetzte, das `Thema' im strengsten Verstande, sich selber. Indem aber die Zwölftontechnik das Variationsprinzip zur Totalität, zum Absoluten erhob, hat sie es in einer letzten Bewegung des Begriffs abgeschafft. Sobald es total wird, entfällt die Möglichkeit der musikalischen Transzendenz; sobald alles gleichermaßen in Variation aufgeht, ein `Thema' nicht zurückbleibt und alles musikalisch Erscheinende unterschiedslos als Permutation der Reihe sich bestimmt, verändert sich in der Allheit der Veränderung gar nichts mehr. Alles bleibt beim alten, und die Zwölftontechnik nähert sich der ziellos umschreibenden vor Beethovenschen Gestalt der Variation, der Paraphrase. Sie bringt die Tendenz der gesamten Geschichte der europäischen Musik seit Haydn, wie sie mit der gleichzeitigen deutschen Philosophie aufs engste verschränkt ist, zum Still


Erste Seite (1) Vorherige Seite (153)Nächste Seite (155) Letzte Seite (186)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 154 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften