- 152 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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größte Ausdehnung in der Frucht und die größte Konzentration im Samen gewahr werden. In diesen sechs Schritten vollendet die Natur unaufhaltsam das ewige Werk der Fortpflanzung der Vegetabilien durch zwei Geschlechter." 22) Durch Umhüllen des Samens mit Blättern haben wir es wiederum mit Ausdehnung zu tun. "Es mag nun die Pflanze sprossen, blühen oder Früchte bringen," schreibt Goethe, "so sind es doch nur immer dieselben Organe, welche, in vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten Gestalten, die Vorschrift der Natur erfüllen. Dasselbe Organ, welches am Stengel als Blatt sich ausgedehnt und eine höchst mannigfaltige Gestalt angenommen hat, zieht sich nun im Kelch zusammen, dehnt sich im Blumenblatt wieder aus, zieht sich in den Geschlechtswerkzeugen zusammen, um sich als Frucht zum letzten Mal auszudehnen." 23)


Naturwissenschaftliche, wissenschaftliche Erkenntnis hat mit Kunst insofern zu tun, als in ihren isolierten Einzeldisziplinen `kein Ganzes zusammengebracht werden kann' (Goethe). Dem Wissen fehle das Innere, der Reflexion das Äußere, betont Goethe in seiner Geschichte der Farbenlehre, sodaß Wissenschaft auch immer als Kunst gedacht werden müsse, um die Ganzheit sowohl im einzelnen Kunstwerk als auch in jedem wissenschaftlichen Faktum erkennen zu können. Dieses nicht wörtlich wiedergegebene Goethezitat stellt Walter Benjamin seinem Traktat über den `Ursprung des deutschen Trauerspiels' voran, in dem er - exemplifiziert an der Form des Trauerspiels - den Begriff der `Idee' kunstphilosophisch abhandelt. Ziel der Erkenntnis im kunstphilosophischen Bereich ist das Auffinden der Wahrheit, die als `Einheit im Sein' außer aller Frage ist, d.h. nicht bestimmbar ist. Begriffliche Vorstellungen der Wahrheit sind die Ideen als Vorgegebenes und zu Betrachtendes. "Die großen Philosophien stellen die Welt in der Ordnung der Ideen dar", sagt Benjamin. "Der Fall ist die Regel, daß die begrifflichen Umrisse, in welchen das geschah, längst brüchig geworden sind. Nichtsdestoweniger behaupten diese Systeme als Entwurf einer Selbstbeschreibung wie Platon mit der Ideenlehre, Leibniz mit der Monadologie, Hegel mit der Dialektik sie gab, ihre Geltung. Allen diesen Versuchen ist es nämlich eigen, ihren Sinn auch dann noch festzuhalten, ja sehr oft dann erst potenziert zu entfalten, wenn sie statt auf die empirische Welt bezogen werden auf die der Ideen." 24) Benjamin begründet dies damit, daß jeder Philosoph, der das Bild des Wirklichen in der Idee intensiv und genau darstellen wolle, soviel an Realität einbringen müsse, daß die Beschreibung der Ideenwelt der empirischen zugute kommen müsse, d.h. daß die empirische sich in der Ideenwelt auflöse und in sie eingehe. In der Kunst geschieht dies durch Darstellung. Was sind nun Ideen? Sie sind nicht die Phänomene, also nicht die Erscheinungen selbst, sondern deren objektive Interpretation. Die Gegebenheit der Ideen wiederum werden bestimmt durch das Faktum der Wahrheit, die ein `aus den Ideen gebildetes intentionslose Sein ist'. 25) Dieses intentionsloses Sein wird begrifflich gemacht durch die Idee in der Gestalt des Namens. "Die Idee ist ein Sprachliches, und zwar im Wesen des Wortes jeweils dasjenige Moment, in welchem es Symbol ist." 26) (Sprachlose) Gestaltung einer Idee setzt die Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Welt voraus, wobei `der Kreis der in ihr möglichen Extreme abgeschritten' werden muß. Der dialektische Prozeß der Auseinandersetzung mit Geschichte ist nicht Sache der Idee. In ihr vollendet sich Geschichte nicht


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