- 148 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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kann Webern nicht abstrakt negieren, sondern nur an dem, wo sie erscheint: an ihrem Maß. Aber der Zeit bleibt seine Musik verdammt. Und nur unter dieser Bedingung kann sie so tun, als sei sie zeitlos - wie sie doch nur maßlos wirkt: Jenseits des Sekundenzeigers der Menschheit. Fausts Verlangen ist damit eingelöst. Webern vermag es, den Augenblick verweilen zu lassen, ihm den ersehnten Raum erfüllter Ewigkeit zu verleihen." 6) Das Bild von der Kugelgestalt der Zeit, der Pluralität des Anschauens des immer Gleichen, paßt sich nahtlos in die Vorstellung vom musikalischen Augenblick als erfüllter Ewigkeit ein.


Webern hat zeitlebens sein künstlerisches Schaffen mit wissenschaftlichen und theoretischen Studien begleitet. Eine Reihe seiner Gedanken sind festgehalten in den Vorträgen, die er zeitweise in Wiener Privathäusern hielt. Aber auch seine Tagebuchnotizen und Briefe an Freunde enthalten immer wieder Äußerungen, die versuchen, besonders die Zwölftontechnik wissenschaftlich zu fundieren. Ich habe einige Notizen Weberns zusammengetragen, aus denen hervorgeht, wie intensiv er damit befaßt war, für die Kernidee der Zwölftontechnik eine außermusikalische Entsprechung zu finden. Aus Weberns Biographie wissen wir, daß er sowohl mit Platons Ideenlehre beschäftigt war als auch eine intime Neigung zu Goethes `Metamorphose der Pflanzen' und zu seiner Farbenlehre hatte. Er war z.B. maßlos beglückt, als Berg ihm Goethes `Farbenlehre' zum Geschenk machte. Außerdem befanden sich in seiner Bibliothek auch Werke der Transzendentalisten Emerson und Thoreau und Bücher Swedenborgs. Emanuel Swedenborgs `Vera religio', das von der Lehre der `Entsprechungen' handelt, durch die sich das Göttliche in der Welt manifestiert, beeinflußte Webern bei der Abfassung seines Dramas "Tot", das anläßlich des Todes seines Neffen entstand und voll von mystischem und pantheistischem Gedankengut ist.


Im Zusammenhang der Entstehung der Sinfonie op. 21 entwickelt Webern den Gedanken der `vollständigen Prädetermination aller strukturellen Elemente'. In einem seiner Wiener Vorträge nennt er die Tonreihe die `Urpflanze' und erläutert dieses Prinzip so: "Goethes Urpflanze: Die Wurzel ist eigentlich nichts anderes als das Blatt, das Blatt wiederum nichts anderes als die Blüte, Variationen desselben Gedankens." Und zur Variation äußert er: "Dieses Streben nach Zusammenhang, nach Beziehungen, führt von sich selbst zu einer Form, die die Klassiker häufig gepflegt haben und die bei Beethoven eigentlich überwiegend geworden ist: zur Variationenform. Ein Thema ist gegeben. Es wird variiert. In diesem Sinne ist die Variationenform eine Vorläuferin der Komposition in zwölf Tönen. Ein Beispiel: Beethovens Neunte Sinfonie: Thema einstimmig; alles weitere ist auf diesen Gedanken gestellt, er ist die Urform. Unerhörtes geschieht, und ist doch immer wieder dasselbe." 7)


Am 14. Dezember 1934, wiederum im Hause von Dr. Rudolph Kurzmann, sagt Webern in einem anderen Vortrag: "Jeder Kunst, jeder Musik liegen Gesetzmäßigkeiten zugrunde. Goethe: `Durch die Genialität der Menschen werden die Gesetze.' Musik ist Mitteilung, Sprache. Die Darstellung eines Gedankens in Tönen ist an allgemeingültige Gesetze gebunden, die in Kraft getreten sind (wirkend fühlbar geworden sind). Die Erfüllung des Gesetzes liegt darin, daß etwas mitgeteilt wird, oder allgemein, etwas verständlich zu machen.


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