- 147 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Musik wird hier als Kontinuum erlebt. Anders bei Webern. In seinen Werken drängt Zeit sich zusammen. So wie ein Kanon (vgl. op. 28) nicht mehr als zeitlicher Ablauf mehrerer Stimmen gehört und empfunden wird, so erlebt der Hörer die Zeit allgemein als in sich Zusammengeschobenes. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von der Dissoziation der Zeit, die er als krankhafte Entwicklung bewertet. Er schreibt: "Nicht länger wird dem Kontinuum der subjektiven Erlebniszeit die Kraft zugetraut, musikalische Ereignisse zusammenzufassen und als ihre Einheit ihnen Sinn zu verleihen. Solche Diskontinuität aber tötet die musikalische Dynamik, der sie selber sich verdankt. Noch einmal bewältigt Musik die Zeit: Aber nicht mehr, indem sie sie erfüllt einstehen läßt, sondern indem sie sie durch eine Sistierung aller musikalischen Momente durch die allgegenwärtige Konstruktion verneint... Der Umschlag der musikalischen Dynamik in Statik - (Dynamik der musikalischen Struktur...) erklärt den eigentümlich fixierten Systemcharakter, den Schönbergs Komponieren vermöge der Zwölftontechnik in seiner späten Phase angenommen hat. Das Werkzeug kompositorischer Dynamik, die Variation, wird total. Damit kündigt sie der Dynamik den Dienst. Das musikalische Phänomen präsentiert sich nicht länger als selbst in Entwicklung begriffen. Die thematische Arbeit wird zur bloßen Vorarbeit des Komponisten. Die Variation tritt als solche überhaupt nicht mehr in Erscheinung. Alles und nichts ist Variation; das Variieren wird ins Material zurückverlegt und präformiert es, ehe die Komposition eigentlich anhebt." 4) Der Umschlag von musikalischer Dynamik in Statik (im Begriff Adornos), also die Eliminierung des subjektiven Erlebnisstrangs, trägt für Adorno negativen Charakter und ist in der Bewertung stets mit dem Gedanken an die Endzeit einer Entwicklung verbunden. Die Zeitbehandlung bei den Zwölftönern, besonders bei Webern, erfährt aber durchaus auch positive Kritik. Zunächst verwies Felix Greissle, Schönbergs Schwiegersohn, im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit Weberns Zeitbegriff auf das 11. Buch der `Konfessionen' des Hlg. Augustin (5. Jahrhundert), in dem dieser eine Definition der Zeit gab. Er sagte, daß die "Zeit nicht nur in der Gegenwart besteht, sondern auch in der Zukunft, als Antizipation, und in der Vergangenheit, als Erinnerung, und daß dadurch eine dreiteilige Einheit entsteht". 5) Im 20. Jahrhundert finden wir diese Zeitdefinition im künstlerischen Schaffen verwirklicht, z.B. im Surrealismus oder auch in der Theorie von der Kugelgestalt der Zeit bei B. A. Zimmermann. Diese Komplexität von Zeitgestaltung durch Schichtung von Zeitebenen, durch Komprimieren von horizontaler und vertikaler Struktur formuliert Berthold Türcke an Hand von Analysen Webernscher Zwölftonwerke noch präziser. Er empfindet Weberns "Bruch mit der Zeit zugleich als höchste Erfüllung" und sagt: "Im Resultat immer gleiche Struktur - das ist der Vertragsbruch mit der Zeit. ... Der immergleiche Augenblick ist ständig verschieden zusammengesetzt, nicht nur durch den Wechsel der Töne und Instrumente, sondern vor allem durch verschieden sich überlappende Dauern. "Immer das Gleiche", so lautet Weberns Motto, "und doch jedesmal ein anderes". Dieses Anderssagen in der Gleichzeitigkeit, den Vertikalen, schafft der Zeit Raum, indem es diese aufhebt. Der immergleiche Augenblick wird durch Verschiedenheit seiner Konfiguration gedehnt; Zeit wird leergelassen und zugleich artikuliert, das Fortlaufen der Zeit so gestaut. Sie schwebt. Ja, es scheint, diese Musik würde ganz der Zeit selbst entraten; doch nur, weil im Ausdruck sie des Tickens der Uhr enträt. Denn Zeit


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