- 430 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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nicht nur der reinen Unterhaltung; als Synthese von musikalischem und filmischem Zitat ist sie vielmehr eine beziehungsreiche Anspielung. Die Möglichkeit der Auswanderung, die Chaplin in seinem Film darstellt, ist der unerfüllbare Traum Bonnets. Amerika verkörpert für ihn die Vorstellung vom verheißenen Land. In dem Moment, als die Stummfilmkamera die Freiheitsstatue erfaßt, offenbart der Umschnitt Bonnets Gesicht in Großaufnahme. Mit Saint-Saëns’ Zitat lehnt sich Malle an die reale Praxis der Stummfilmtage an, denn auch hier wurden die Werke des Komponisten gerne gespielt. Ebenso wird das Stück hier – wie in Stummfilmzeiten – entsprechend den Bedürfnissen des Films gekürzt, ganze Abschnitte werden während des Vortrages übersprungen. Damit leistet Malle wieder eine Hommage an seine Kindheit, zu der in den dreißiger und vierziger Jahren regelmäßige Vorführungen der populären Filme Chaplins in Schulen und Filmclubs gehörten.18
18 French 1998, S. 234.
Auf die Frage, warum er gerade dieses Stück ausgewählt habe, antwortet er: »Ich weiß nicht, warum ich die Geige und dieses virtuose Saint-Saëns-Stück drin haben wollte. Irgend etwas recht Bizarres sollte es sein.«19
19 French 1998, S. 234–235.
Das »Bizarre« dieser Musik nutzt Malle bereits vorher: als Quentin und Bonnet sich auf dem Schulhof prügeln, stürzt sich Madame Quentin mit ihrer ganzen extravaganten Distinguiertheit dazwischen, so daß die Jungen einen Lachanfall bekommen. Ganz entfernt hören wir dabei die Violine des Rondo Capriccioso. Bereits dieser Vorfall zeigt, daß allein der eigenwillige Gestus der Musik von Saint-Saëns für ihren Einsatz verantwortlich gemacht werden kann. Eine andere Bezugsquelle gibt es in diesem Falle nicht. So gesehen hätte Malle jedes andere Stück nehmen können, das sich auch in Stummfilmtagen zur Begleitung der Bilder geeignet hat. In der Filmvorführung von Chaplins Der Einwanderer wird diese stumme Dimension des Stückes von Saint-Saëns schließlich vollständig eingelöst. Die Staccati der Klavierbegleitung und die überhasteten schrillen Läufe der Violine verleihen der Musik einen grotesken Zug, der sich vollkommen den komödiantischen Bildern des Chaplin-Films anpaßt: das schaukelnde Bild, die hastigen Bewegungen der Figuren, ihre aus heutiger Sicht übertriebene Mimik und Gestik finden ihre Entsprechung in der Musik. Insofern spielt hier weniger der historische Kontext des Stückes eine Rolle als vielmehr seine mögliche filmische Verwendung in den zehner und zwanziger Jahren. In dieser Hinsicht bedient sich Malle der historischen Beschriftung Saint-Saëns’ durch den Stummfilm. Bei aller komödiantischen Wirkung steht hinter der Filmvorführung jedoch die im Grunde tragische Sehnsucht Bonnets und seiner beiden jüdischen Freunde nach Freiheit. Diesem Wunsch entspricht musikalisch gesehen das empfindsamere exotische Habanera-Thema, das die Bilder der Miss Liberty begleitet (vgl. Abbildung 14.7).20
20 Saint-Saëns 1958, S. 10–11.



Abbildung 14.7: C. Saint-Saëns: Introduction and Rondo Capriccioso op. 28


So arbeitet Malle in dieser Szene nicht nur auf der musikalischen, sondern auch auf der filmischen Ebene mit dem dramaturgischen Mittel des Zitates, »sein Spiel ist das der Anspielung«21

21 Schmidt 1990, S. 242.
.

Das Thema Amerika als Verheißung persönlicher Freiheit geistert weiterhin durch die Dramaturgie. Wie zu erwarten läßt die Musik auch in diesem Falle nicht


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