nicht nur der reinen Unterhaltung; als Synthese von musikalischem und filmischem
Zitat ist sie vielmehr eine beziehungsreiche Anspielung. Die Möglichkeit der
Auswanderung, die Chaplin in seinem Film darstellt, ist der unerfüllbare Traum
Bonnets. Amerika verkörpert für ihn die Vorstellung vom verheißenen Land. In dem
Moment, als die Stummfilmkamera die Freiheitsstatue erfaßt, offenbart der
Umschnitt Bonnets Gesicht in Großaufnahme. Mit Saint-Saëns’ Zitat lehnt sich
Malle an die reale Praxis der Stummfilmtage an, denn auch hier wurden die
Werke des Komponisten gerne gespielt. Ebenso wird das Stück hier – wie in
Stummfilmzeiten – entsprechend den Bedürfnissen des Films gekürzt, ganze
Abschnitte werden während des Vortrages übersprungen. Damit leistet Malle wieder
eine Hommage an seine Kindheit, zu der in den dreißiger und vierziger Jahren
regelmäßige Vorführungen der populären Filme Chaplins in Schulen und Filmclubs
gehörten.18
Auf die Frage, warum er gerade dieses Stück ausgewählt habe,
antwortet er: »Ich weiß nicht, warum ich die Geige und dieses virtuose
Saint-Saëns-Stück drin haben wollte. Irgend etwas recht Bizarres sollte es
sein.«19
Das »Bizarre« dieser Musik nutzt Malle bereits vorher: als Quentin und Bonnet
sich auf dem Schulhof prügeln, stürzt sich Madame Quentin mit ihrer ganzen
extravaganten Distinguiertheit dazwischen, so daß die Jungen einen Lachanfall
bekommen. Ganz entfernt hören wir dabei die Violine des Rondo Capriccioso.
Bereits dieser Vorfall zeigt, daß allein der eigenwillige Gestus der Musik von
Saint-Saëns für ihren Einsatz verantwortlich gemacht werden kann. Eine andere
Bezugsquelle gibt es in diesem Falle nicht. So gesehen hätte Malle jedes andere Stück
nehmen können, das sich auch in Stummfilmtagen zur Begleitung der Bilder
geeignet hat. In der Filmvorführung von Chaplins Der Einwanderer wird diese
stumme Dimension des Stückes von Saint-Saëns schließlich vollständig eingelöst.
Die Staccati der Klavierbegleitung und die überhasteten schrillen Läufe der
Violine verleihen der Musik einen grotesken Zug, der sich vollkommen den
komödiantischen Bildern des Chaplin-Films anpaßt: das schaukelnde Bild, die
hastigen Bewegungen der Figuren, ihre aus heutiger Sicht übertriebene Mimik und
Gestik finden ihre Entsprechung in der Musik. Insofern spielt hier weniger der
historische Kontext des Stückes eine Rolle als vielmehr seine mögliche filmische
Verwendung in den zehner und zwanziger Jahren. In dieser Hinsicht bedient sich
Malle der historischen Beschriftung Saint-Saëns’ durch den Stummfilm. Bei aller
komödiantischen Wirkung steht hinter der Filmvorführung jedoch die im Grunde
tragische Sehnsucht Bonnets und seiner beiden jüdischen Freunde nach Freiheit.
Diesem Wunsch entspricht musikalisch gesehen das empfindsamere exotische
Habanera-Thema, das die Bilder der Miss Liberty begleitet (vgl. Abbildung
14.7).20
So arbeitet Malle in dieser Szene nicht nur auf der musikalischen, sondern auch auf der filmischen Ebene mit dem dramaturgischen Mittel des Zitates, »sein Spiel ist das der Anspielung«21 .Das Thema Amerika als Verheißung persönlicher Freiheit geistert weiterhin durch die Dramaturgie. Wie zu erwarten läßt die Musik auch in diesem Falle nicht |