- 424 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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den versteckten Juden. Wenig später werden Pater Jean und die drei jüdischen Kinder verhaftet und vor den auf dem Schulhof versammelten Schülern und Lehrern abgeführt. Julien bleibt zurück – verfolgt von der Vorstellung, er habe Bonnet durch einen unbedachten Blick verraten. Malle berichtet aus dem off, daß die drei Jungen in Auschwitz, Pater Jean in Mauthausen ermordet wurden.

Malle reduziert die gesamte Musik in seinem Film auf wenige Einsatzstellen. Die musikalische Nettozeit beträgt gerade einmal 12’54 Minuten, das sind rund 15 Prozent der gesamten Filmzeit. Dazu zählen natürlich nicht nur die Zitate Schuberts und Saint-Saëns’, sondern auch der amerikanische Boogie-Woogie; ferner die beiden Lieder Il y a longtemps que je t’aime und Je crois en toi, mon Dieu, die von den Schülern auf ihrem Weg zur Schule und in der Kirche gesungen werden und schließlich die Rummelplatzmusik aus dem Leierkasten, die man jedoch nur ganz entfernt aus dem Hintergrund vernimmt, als Julien und François mit ihrer Mutter am Sonntagnachmittag spazieren gehen. Schuberts Moment Musical Nr. 2 As-Dur op. 94 umrahmt die gesamte Dramaturgie des Films. Es erklingt insgesamt sechsmal, wobei die Musik kontinuierlich auf kleinste motivische Fragmente reduziert wird. Erst im Abspann hören wir wieder einen – wenn auch unvollständigen – jedoch längeren zusammenhängenden Ausschnitt. Insofern ist neben dem Stimmungsgehalt des Stückes vor allem seine syntaktische Dimension hervorzuheben.

Erster Einsatz des Moment Musicals: die Eingangssequenz des Films. Julien verabschiedet sich nach den Weihnachtsferien am Zug schweren Herzens von seiner Mutter. Daß das Zitat eine deutliche syntaktische Funktion hat, wird hier noch nicht offenbar. Statt dessen teilt Malle dem Zuschauer über die Musik eine ganze Reihe weiterer Informationen mit. In dem Moment, als Mutter und Sohn in einer letzten innigen Umarmung verweilen, setzt Schuberts Moment Musical Nr. 2 ein (vgl. Abbildung 14.1).1

1 Franz Schubert: Moment Musicaux Nr. 2 As-Dur, op. 94 (D 780). In: Max Pauer (Hrsg.): Franz Schubert. Impromptus. Moments musicaux für Klavier zu zwei Händen. Wiesbaden 1987, S. 76.



Abbildung 14.1: F. Schubert: Moment Musical Nr. 2 As-Dur op. 94 (D 780), A-Teil


Der Ausschnitt beträgt gerade einmal 46 Sekunden, doch teilt sich hier dem Zuschauer bereits vieles mit. Zunächst ist der Einsatz natürlich ein klares musikalisches Pendant zu dem Abschied Juliens von seiner Mutter. Die Musik illustriert das innige Verhältnis zwischen den beiden. Zugleich reflektiert die schwermütige in sich kreisende Melodie affirmativ die seelische Verfassung des Jungen. So verweilt die Kamera denn auch während der nun folgenden Zugfahrt auf Julien in einer Nah- bzw. Großaufnahme. Damit wird er zum dramaturgischen Bezugspunkt; er trägt die Stimmung in sich, die von der Musik ausgeht. Diese ist genauso trostlos wie die karge Winterlandschaft, die sich in der Fensterscheibe widerspiegelt. An dieser Stelle sei auf ein Detail der Entstehungsgeschichte der Moment Musicals hingewiesen. Sie entstanden, so wird vermutet, ein Jahr vor Schuberts Tod im Jahre 1827. Die Werke werden oft als simple launische Einfälle des Komponisten angesehen. Im Zusammenhang mit der für Schubert so unruhevollen Epoche, in der sie entstanden, sind sie jedoch etwas völlig anderes, so Schneider.2

2 Marcel Schneider: Schubert. Hamburg 1993a, S. 88.
Er vermutet, daß Schubert im op. 94 vorweg das ausgedrückt zu haben scheint, was der französische Dichter Alfred de Musset, der Schuberts Musik kannte, später in seinen Versen sagte. Im Souvenir schreibt dieser:

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