- 402 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (401)Nächste Seite (403) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Film läßt sich so vielmehr in jenen für den Regisseur bezeichnenden universalen und globalen Zusammenhang einordnen: ein Opfer steht seinem früheren Unterdrücker und Peiniger gegenüber. Es muß sich dieser Begegnung stellen und sie durchleben. Polanski flechtet hieraus eine breit gefächerte Thematik, die jene Dimension eines Politthrillers um ein Vielfaches erweitert.

Es geht um die Relativität von Wahrheit, um ein Ereignis, das aus verschiedenen Perspektiven geschildert wird. Wie kann man die Wahrheit sagen, wenn die Maske, die man aufgesetzt hat, mit dem Gesicht identisch geworden ist? Wie sehr täuscht, schützt und lenkt die Erinnerung den Menschen?7

7 Dorfman 1991, zit. n. Dorfman 1995, S. 78.
Es geht um den Umgang mit der Wahrheit: Ist es legitim, die Wahrheit zu verdrehen um des Friedens willen? Polanski illustriert die Wechselbeziehung von Schuld und Unschuld. Wie kann man seine Unschuld bewahren, wenn man den Geschmack des Bösen einmal empfunden hat? Polanski wirft Fragen auf über die Angemessenheit privater Rache durch fehlendes Vertrauen in staatliche Autorität. Darf man mit Gewalt auf frühere Gewalt reagieren nach dem uralten Prinzip: Auge um Auge, Zahn um Zahn? Wie können Opfer und Folterer im selben Land miteinander leben? Sind Menschen, die ihre eigene Vergangenheit zugleich fürchten und brauchen, frei, nach Recht und Gleichheit zu suchen? Fragen, die nicht nur die chilenische Sichtweise darstellen, sondern auf jedes Land zutreffen, das unter dem Terror einer Militärdiktatur ausharrt oder ihn durchlebt hat. Nicht zuletzt geht es um die ebenfalls globale Frage der sexuellen Gewalt des Mannes über die Frau respektive was passiert, wenn die Rollen vertauscht werden und die Frauen die Macht übernehmen. Angesichts dieser Thematik geraten Polanskis Charaktere vielmehr zu Typen, an denen der Zuschauer herausfinden kann, welchem Typ er möglicherweise ähnelt.

Wie in Rosemaries Baby achtet Polanski auch bei diesem Film auf innere Geschlossenheit. Während er uns in Rosemaries Baby den Panoramablick über Manhattan bietet, so beginnt und endet Der Tod und das Mädchen im Konzertsaal. Dazwischen liegt ein aus der Retrospektive erzählter Suspense, der sich lediglich über mehrere Stunden zieht. Erzählzeit und erzählte Zeit sind hier identisch. Die innere Geschlossenheit des Films ist ebenso ein Indiz für die literarische Grundlage, das gleichnamige Theaterstück von Ariel Dorfman. So entspricht die filmische Adaption Polanskis der Erzählform des durch die Bühne geprägten Dramas, in dem die drei beteiligten Charaktere Paulina, Gerardo und Miranda in kontinuierlicher Rede und Gegenrede ihren Konflikt so unmittelbar gegenwärtig austragen wie auf einer Bühne. Die dramatische Handlung beruht auch hier auf der Kollision polarer Kräfte, die durch die dramatis personae – insbesondere Paulina und Miranda als direkte Gegner – repräsentiert werden. Dafür spricht auch die äußere Beschränkung der Handlung auf das Haus. Die Totalität der »Welt draußen« wird hier entsprechend abstrahiert, sie ist durch die Dialoge symbolisch gegenwärtig. Der Film entspricht der Gattung der Tragödie, wobei der Spannungsbogen der dramatischen Handlung wie in Rosemaries Baby wiederum zwei polare Linien offenbart. Auch hier verhalten sich Suspense und die psychologischen Befindlichkeiten aller drei Figuren diametral zueinander. Doch im Gegensatz zu Rosemaries Baby hält sich Polanski in Anlehnung an die Erzählform des Dramas auch in inhaltlich-dramaturgischer Hinsicht eher an Geschlossenheit (vgl. Abbildung 13.1).



Abbildung 13.1: Die dramaturgische Anlage in Der Tod und das Mädchen



Erste Seite (i) Vorherige Seite (401)Nächste Seite (403) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 402 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik