- 401 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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auf der Couch vor. Sie überwältigt, fesselt und knebelt ihn. Was nun folgt, ist ein Privattribunal, in dem Paulina Miranda der Folterung und Vergewaltigung an ihr anklagt, bei der dieser jedesmal Schuberts Der Tod und das Mädchen gespielt haben soll. Sie ist besessen von Rachegedanken, sie demütigt Miranda mit sichtlichem Genuß und fordert von ihm ein umfassendes Geständnis. Dieser beteuert wiederholt seine Unschuld und verweist auf ein Alibi: er habe in der Zeit in Barcelona gelebt. Das Tribunal wird zu einer regelrechten »Verhandlung«, bei der Gerardo, der designierte Justizminister des Landes, die »Verteidigung« des Arztes übernehmen soll. Er zeigt sich schockiert über Paulinas Vergewaltigung. Im Gespräch mit ihr erfährt er erstmals ihre ganze Geschichte und das Ausmaß ihrer körperlichen wie seelischen Folterung. Sie wurde mißhandelt, da sie Gerardos Identität nicht preisgeben wollte. Dieser überredet Miranda daraufhin zu einem »unechten« Geständnis, das er auf Video aufzeichnet. In einem Moment der Unaufmerksamkeit versucht Miranda einen Fluchtversuch, er wird jedoch von Gerardo überwältigt. Paulina wertet das Geständnis als unecht und beendet die Verhandlung. Sie führt Miranda an den nahegelegenen Klippenabgrund. Währenddessen ruft Gerardo verzweifelt in Barcelona an, Mirandas Alibi wird von der Frau am anderen Ende der Leitung zögernd bestätigt. Paulina glaubt nicht daran und will Miranda endgültig die Klippe hinunterstürzen. Von ihrer Entschlossenheit eingeschüchtert, legt dieser plötzlich vor ihr auf Knien ein umfassendes Geständnis ab. Wortlos nimmt Paulina ihm die Fesseln ab und geht davon. Der Epilog: Paulina und Gerardo sitzen wieder im Schubert-Konzert. Auf der Empore sitzt Miranda mit seiner Familie und beobachtet Paulina. Als das Thema des Streichquartetts Der Tod und das Mädchen sich aufwühlend steigert, tauschen die beiden einen stummen Blick aus.

Auf den ersten Blick scheint es, als ob Polanski zum ersten Mal einen Politthriller gedreht hätte, indem er auf die Militärdiktatur unter Staatspräsident General Augusto Pinochet in Chile (1974–1990) anspielt. Man kann durchaus von einer solchen Konstellation ausgehen, zumal Dorfman, der nach dem Sturz Salvador Allendes im Jahre 1973 ins Exil ging, im Nachwort seines Stückes selbst eine Antwort auf diese Frage gibt: »Erst als Chile seinen Weg zur Demokratie fand und ich, nach siebzehn Jahren Exil, mit meiner Familie dorthin zurückkehrte, wurde mir endlich klar, wie die Geschichte zu erzählen ist. [. . . ] Die scheinbare Entführung und die Verhandlung sollten nicht in einem Land unter diktatorischem Regime stattfinden, sondern in einem Land, das sich in einer Übergangsphase zur Demokratie befindet.«5

5 Ariel Dorfman 11. September 1991, zit. n. Dorfman 1995, S. 73–75.
Und dies ist bis in einzelne Details seines Stückes sichtbar. Die Untersuchungskommission beispielsweise, deren Vorsitz Gerardo führt, lehnt sich direkt an die Kommission an, die der Präsident Patricio Aylwin zur Aufklärung von Verbrechen aus der Zeit der Diktatur einberufen hatte, die mit Tod oder mutmaßlicher Todesfolge endeten. Die Wahrheit über den Terror war bisher lediglich inoffiziell und bruchstückhaft bekannt. Sie sollte nun - wie auch im Film – öffentliche Anerkennung erhalten. Die historische Quelle Dorfmans ist somit unumstritten. Doch relativiert der Autor seine Quelle, indem er den Ort seines Stückes nicht genau festlegt: »Ein Land, wahrscheinlich Chile, aber auch jedes andere Land, das sich zu einer demokratischen Regierung bekennt, kurz nach einer langen Zeit der Diktatur.«6
6 Dorfman 1995, S. 8.
Polanski nimmt diese Relativität auf, indem er sich wie Dorfman auf einer psychologisch gesehen subtileren Ebene bewegt. Doch im Gegensatz zu Dorfman entzieht er sich vollständig einer präzisen politischen Anspielung. Er nennt weder ein konkretes Regime noch einen politischen Führer, nicht einmal ein Land. Der

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