- 389 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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In der Eingangssequenz erfaßt die Kamera in Großaufnahme saftig goldgelbe Zitronen, die eine Frauenhand langsam und bedächtig in mehrere Hälften schneidet. Jetzt wandert die Hand langsam zu einem Kassettenrecorder, den sie einschaltet. Für einen kurzen Moment verweilt die Kamera auf dem Gerät, aus dem die berühmte Arie »Casta Diva« aus der Oper Norma (1831) von Vincenzo Bellini erklingt. Mit dem nächsten Schnitt sehen wir Sally, die zum Gesang der Norma (Elisabeth Harwood) im warmen Halbdunkel ihrer Wohnung ihren Oberkörper mit Zitronensaft einreibt (vgl. Abbildung 12.1).5
5 Vincenzo Bellini: Keusche Göttin – Casta Diva. Arie der Norma aus: Norma, hrsg. von Robert Lienau (= Operngesänge. Sammlung bekannter Arien und Duette Nr. 15). Berlin-Lichterfelde o.J., S. 3.



Abbildung 12.1: V. Bellini: Norma, »Keusche Göttin – Casta Diva«


Bellinis Druidenpriesterin Norma ist innerlich zerrissen zwischen ihrer Keuschheitspflicht und der Liebe zum römischen Prokonsul Pollione und ihren beiden gemeinsamen Kindern. Die Gallier erwarten von ihr bei Mondaufgang das Zeichen zum Kampf gegen die Römer, das sie jedoch nicht gibt. Statt dessen vollzieht sie die heilige Handlung des Mistelbrechens und fleht die Mondgöttin um Frieden an. Die Römer würden nicht durch die Gallier, sondern durch ihre eigenen Laster fallen. Hinter der Beschwichtigung steht freilich ihr Wunsch nach innerem Frieden, den sie wegen ihres inneres Kampfes für sich selbst ersehnt. Bellinis Oper akzentuiert daher weniger den historischen Aspekt des Stoffes (den Konflikt zwischen Römern und Galliern) als vielmehr dessen romantisch-magisches Ambiente (den Druidenkult), vor allem den seelischen Zwiespalt der Titelheldin Norma. An der Arie »Casta Diva« wird deutlich, wie sehr sich Bellini hier als sensibler Textinterpret erweist. In einer für die italienische Oper der Zeit neuartigen Weise schafft er eine Einheit von Wort und Ton, die durch einen genauen Affektausdruck charakterisiert ist. Der vielzitierte »elegische« Charakter von Bellinis Musik – er selbst


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