sprach von seiner
»melanconica musa« – zeigt den Komponisten als Repräsentanten jenes romantischen
»Weltschmerzes«, der seit Lord Byron ein ästhetisches europäisches Phänomen
war.6
6 Friedrich Lippmann: »Norma. Melodramma in due atti.« In: Carl Dahlhaus (Hrsg.):
Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper, Operette, Musical, Ballett, Bd. 1.
München 1986, S. 251; vgl. auch Kap. 8.3.1.
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Insofern wurde Norma zum Inbegriff des hochromantischen Belcanto, in dem sich
Beherrschung von Technik und interpretatorische Hingabe verbinden.
Im Film Atlantic City, U.S.A. hat die Arie »Casta Diva«, die insgesamt viermal zitiert
wird, verschiedene Funktionen. Ihre elegisch ausschwingenden Linien entsprechen der
zeremoniellen Gottesanbetung Normas. In dieser ersten Szene inszeniert Malle Sallys
Waschritual mit den Zitrusfrüchten ebenso wie einen festlichen Akt, bei dem sie jede
Handbewegung mit äußerster Besonnenheit ausführt. In der deutschen Übersetzung des
Andante sostenuto assai heißt es:
»Keusche Göttin im silbernen Glanze,
taue Segen auf die dir geweihte Pflanze,
deines Anblicks laß uns erfreuen,
wolkenfrei und schleierlos.
Laß nicht Zwietracht sich erneuen,
träufle Balsam in die Wunden,
bis den Frieden sie aufgefunden,
der entkeimt aus deinem Schoß.«7
»Casta Diva«, die »keusche Göttin« – eine Charakterisierung Sallys – ist
eine erste Mitteilung, die dem Zuschauer hier über die Musik angeboten wird.
Diese Mitteilung setzt Malle so in Szene, daß nicht nur Sallys »schleierlose«
Nacktheit den Blick des Zuschauers reizt, vielmehr taucht er die Szene durch
warme Beleuchtung und Sallys schwelgerischer Gestik in eine feierliche Stimmung
voll entspannender Ruhe, das »langsame Leben«, wie Vogt es in seiner für
einen Medienwissenschaftler erfreulich akribischen Analyse der Musikszenen
formuliert.8
Dabei schafft Malle nicht nur durch den getragen-friedvollen Charakter der Musik einen
szenischen Bezug, sondern auch durch den Text. Tatsächlich scheint Sally dieses
Waschritual wie eine Art reinigendes Balsam voller Sinnlichkeit zu empfinden, bei dem
sie sich vollkommen in sich selbst zurückziehen kann. Bei den Worten »deines Anblicks
laß uns erfreuen« fährt die Kamera nun langsam aus ihrem erleuchteten Fenster zurück.
Indem Sally von dem Fensterrahmen umgeben wird, wirkt sie wie ein Gemälde, das man
betrachten kann. Und dies tut ihr Nachbar Lou aus sicherer Entfernung, den die Kamera
nun in seiner abgedunkelten Wohnung erfaßt. Damit wird das Bild aus seiner
ursprünglichen »Feierlichkeit« herausgehoben und tritt nun in den Zusammenhang seiner
Alltäglichkeit.9
Der Schnitt, der die Arie auf dem ersten Höhepunkt hart unterbricht und uns den Blick
auf den schmuddeligen Dave eröffnet, demonstriert im weiteren Verlauf im nachhinein
die Fremdartigkeit zwischen Sallys ruhiger Oase und dem hektischen Alltag, in dem
Drogengeschäfte an der Tagesordnung sind. Anstelle der Musik hören wir nur noch den
aufdringlichen Verkehrslärm Philadelphias (was im weiteren Verlauf mit Atlantic City
kompatibel ist). Damit
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