- 371 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Im folgenden Allegro assai (D-Dur, 4/4-Takt) wird nach dem Aufruf des Bariton die Phase der musikalischen Verbrüderung besungen. Freudenrufe werden laut (Bariton und Chorbässe). Der Solist stimmt in die Melodie des Orchesters ein und singt die erste Strophe der Ode Schillers: »Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt.«128
128 Friedrich Schiller: Ode an die Freude, 1803, zit. n. Nicholas Cook: Beethoven: Symphony No. 9. Cambridge 1993, S. 108. Alle weiteren Zitate der Ode beziehen sich auf diese Ausgabe.

Der Chor tritt hinzu (Takt 21 bis 28). Ab Takt 33 intoniert das Soloquartett die zweite Strophe: »Wem der große Wurf gelungen, Eines Freundes Freund zu sein,
Wer ein holdes Weib errungen! Mische seinen Jubel ein!
Ja – wer auch nur eine Seele Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle Weinend sich aus diesem Bund.«

Auch diese Strophe wird in den letzten zwei Versen wieder vom Chor bestätigt bis das Soloquartett die dritte Strophe singt. »Freude trinken alle Wesen An den Brüsten der Natur;
alle Guten, alle Bösen Folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben, Einen Freund, geprüft im Tod;
Wollust ward dem Wurm gegeben, und der Cherub steht vor Gott.«

Wiederum bestätigt der Chor die letzten zwei Verse der Strophe. Dreimal werden die Worte »vor Gott« pompös wiederholt (bis Takt 94). Damit der Aufbau während der symmetrischen Anordnung von Chor und Soloquartett nicht leblos wird, dafür sorgen die Variationen des Hymnus und vor allem die Instrumentalbegleitung. Letztere dynamisiert den Satz und umspielt den Gesang mit zahlreichen Tongirlanden. Dadurch belebt sie seinen Rhythmus mehr und mehr durch metrische Figuren, Akzente und synkopische Schläge: »Das Lautbild gleicht wohl einer Volksversammlung. Der Aufbau des Satzes ist massenpsychologisch motiviert.«129

129 Seidel 1994, S. 268.

Der zweite Teil (Allegro assai vivace, Alla Marcia, B-Dur, schließlich D-Dur, 6/8-Takt), der auch von Kubrick zitiert wird, ist nicht unbedingt leicht zu deuten, denn er führt den Hörer in eine neue Szenerie. Der Konzertsaal wird hier zum Tribunal, das Freudenthema zu einem Marsch. Aus weiter Ferne – so scheint es – nähert sich in Form des türkischen Marsches eine exotische Kriegsmusik. Die Ferne wird durch die tupfenden Pianissimo-Schläge in den Holzbläsern und in der Trommel (Gran Cassa) angedeutet, die den Marschrhythmus vorgibt (Takt 1 bis 12), bis die exotische Kriegsmusik erklingt (Bläser, besonders Piccolo-Flöten und viel Schlagzeug.) Man hört eine bizarre, gänzlich aus den Fugen des Taktes geratene Marschfassung des Freude-Liedes. Zwar könnte man den Türkischen Marsch als ein Ergebnis dessen sehen, was vorher vorbereitet wurde, doch die zahlreichen Änderungen in Tonart, Tempo und Metrum trennen diesen Teil von allem vorherigen. Ebenso signalisiert Beethovens vorhergegangene Betonung der Worte »vor Gott«, daß nun etwas Neues geschieht (vgl. Abbildung 11.21).130

130 Beethoven 1987, S. 195.



Abbildung 11.21: L. v. Beethoven: Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125, IV. Satz Allegro assai vivace, Alla Marcia


Triangel und Zymbal verstärken den Eindruck des Exotischen. Die Bläser spielen den Hymnus in ihrem neuen Taktmetrum einmal durch (Takt 13 bis 44.) Doch


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