- 370 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (369)Nächste Seite (371) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

können.«124
124 Seidel 1994, S. 266.
Seidel erklärt die stilistische Spaltung des Werkes mit zwei Welten, die sich gegenüber-stehen: Beethoven »dramatisiere« den Übergang von der abgelebten Vergangenheit (Sätze I bis III) in die glückliche Zukunft (IV. Satz).

Zunächst findet im Finale ein Rückblick auf Vorangegangenes noch in rein instrumentaler Gestaltung statt: das Presto in d-Moll (3/4-Takt) beschwört nochmals jenen »verzweiflungsvollen Zustand« des ersten Satzes. Damit wird der Hörer auch jäh aus der Ruhe des vorangegangenen Adagios gerissen. Im folgenden verbinden sich Instrumentalrezitative von Violoncello und Kontrabaß mit orchestralen Rückblenden der ersten drei Sätze (Takt 8–29). Diesen Rezitativen der tiefen Streicher antwortet noch einmal jenes »Schreckensbild« des ersten Satzes mit den leeren Quinten (Allegro ma non troppo, 2/4-Takt, ab Takt 30). Erneut antwortet das Instrumentalrezitativ (Poco adagio, Takt 39–47). Ab dem Takt 48 ertönt ein Anklang an das motorische Fugato des zweiten Satzes. Auch darauf reagieren wieder Kontrabaß und Violoncello (Takt 56 bis 62). Es ist nach etwas Besserem zu suchen. So deuten die Holzbläser im Adagio cantabile auf das Thema des dritten Satzes (Takt 63 bis 64). Wiederum antwortet das Instrumentalrezitativ, zunächst besänftigend, dann energisch. Plötzlich stimmen die Oboen zaghaft ein neues Thema an – den Freudenhymnus (Allegro moderato, 4/4-Takt, Takt 77 bis 80). Die Bässe greifen es behäbig auf: »Ha, dieses ist es, es ist gefunden – Freude!« Diese Worte hat Beethoven dem Rezitativ in den Skizzen selbst zugeordnet.125

125 Schaefer 1988, S. 84.
Dieses schlichte Thema, das mehr wie ein Volkslied wirkt, wird im weiteren Verlauf zu einem »Triumphgesang der Freude.« In einem Fugato wandert das Thema durch alle Stimmen (Takt 116 bis 204). Im Poco adagio stockt jedoch der musikalische Verlauf, noch einmal beschwört das anschließende Presto den »verzweiflungsvollen Zustand« des ersten Satzes (Takt 1 bis 8) bis die menschliche Stimme diesem Chaos Einhalt gebietet: »O Freunde, nicht diese Töne!« (Baritonsolo, Takt 9 bis 14). Seidel vermutet hinter dieser kompositorischen Entscheidung Beethovens Gedanken, der Aufbruch in eine menschenfreundliche Zukunft müsse sich auf die ursprüngliche Ordnung der Dinge gründen. Die neue Gemeinschaft, so Rousseau und Herder, ist das Produkt eines neuen Liedes, eines Hymnus, der die Kraft der alten Gesetze erneuert. So soll auch Beethovens Lied die verlorene Kraft der »Urmusik« erneuern. Er versucht damit, die Menschen wieder zu vereinen. Dabei spielt Schillers Gedicht jedoch eine mehr untergeordnete Rolle, denn es handelt sich im Grunde um nicht mehr als ein gängiges Gesellschaftslied der Zeit. Erst Beethovens Musik weitet seine Bedeutung. Die zeigt sich auch daran, daß Beethoven die Verse völlig frei wählt. Er gruppiert sie, ohne Rücksicht auf die poetische Form zu nehmen – allein im Interesse seines musikalischen Konzepts.126
126 Seidel 1994, S. 266–267.

Das Baritonsolo erklärt die Hörer zu Freunden. Der Solist wird im sinfonischen Gefüge zum Protagonisten der neuen Ordnung und lädt die Hörer ein, in den Hymnus einzustimmen (Takt 17 bis 22). Für die neue Welt steht also ein gänzlich neues Verhältnis von Hörer und Musik. Während der erste Satz den Hörer seine Ohnmacht fühlen läßt und »seiner moralischen Kraft das Äußerste abverlangt«127

127 Seidel 1994, S. 267.
, wird er im zweiten Satz der rhythmischen »Tanzmotorik« unterworfen. Der dritte Satz ist der Satz des »resignierten Gebets«. Erst das Finale appelliert an ihn, sich als Gleicher mit Gleichen zu verbinden. Beethoven entspricht hier entgegen seinem Status als romantischer Komponist ganz den ästhetischen Gesetzen des 18. Jahrhunderts, denn dies hat bereits die Angelegenheit des Menschen zum Gegenstand der Sinfonie erklärt.

Erste Seite (i) Vorherige Seite (369)Nächste Seite (371) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 370 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik