- 361 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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eine Reihe von Motiven, die in ihrer unterschiedlichen Aussage das »Gesamtbild des heroischen Aufbegehrens und tragischer Verzweiflung«108
108 Schaefer 1988, S. 74.
ergeben. Durchweg ist dieser Satz als Ausdruck des Kampfes interpretiert worden, denn aus dem Gegensatz der Motive wird ein Gegensatz von Kräften. Zwar ist nicht ganz eindeutig, wer hier gegen wen kämpft, doch ist offensichtlich, daß gegensätzliche motivische Kräfte miteinander verschränkt sind, so daß es zu musikalischen »Explosionen« kommt, bei denen die Musik zum Ziel drängt, an anderer Stelle zu stillen »Tönen der Hoffnung.«109
109 Seidel 1994, S. 258.
Bereits im ersten Satz weicht Beethoven damit von der gewöhnlichen Themenkonzeption ab, denn er ist alles andere als das herkömmliche bogenförmige Gebilde. Die verschiedenen Teile, aus denen er besteht, berühren den Hörer unterschiedlich. Das anfängliche dunkle Tremolo wirkt pathetisch, das erste Thema ist Gegenstand einer »panischen Anschauung«110
110 Seidel 1994, S. 260.
, während die pathetische Schlußpartie ein Appell an einen Selbstbehauptungswillen darstellt. Dahlhaus betont hier besonders den Monumentalstil der Sinfonie, der sich bereits im ersten Satz begründet und auf Beethovens Ästhetik des Erhabenen hinweist. Zu den Bedingungen des Erhabenen gehöre eine Simplizität des Themas, die es erträgt, mit Emphase vorgetragen zu werden, ohne in leere Rhetorik zu zerfallen. In diesem Sinne beginnt das Hauptthema des ersten Satzes mit einer simplen Dreiklangsbrechung sowie einer kadenzierten Wendung im Fortissimo, so daß etwas Unscheinbares mit dem dynamischen Gewaltmittel zum »Ereignis« stilisiert wird.111
111 Dahlhaus 1987, S. 110.
Eine andere Begründung in der gegensätzlichen Berührung des Hörers durch gegensätzliche Motivik könnte man auch in Beethovens Bezug zur klassischen Epoche sehen: der erste Satz exponiert ein Thema von ungeheurer Kraft und appelliert im Versuch, das Thema formal zu bewältigen, an den Hörer, sich davon nicht vernichten zu lassen. Dies ist ein Konfiguration von Natur und Mensch, die in der klassischen Ästhetik des Erhabenen ihre Erklärung findet. Nicht die schiere Übergröße und Unfaßlichkeit der Natur (bei Beethoven des Themas) sind es, denen Kant Erhabenheit zusprach. Vielmehr sprach er diese Erhabenheit dem Menschen und seiner Kraft zu, der die Natur zu beherrschen sucht (hier ist es der Hörer, der den ersten Satz zu beherrschen sucht). Dieser Eindruck hält sich bis zum letzten Takt des ersten Satzes: am Ende schneidet der Nachsatz des Kopfthemas aus der Hauptthemengruppe in einem Unisono jede weitere Entwicklung ab – die Welt bleibt »ohne Freude«.112
112 Schaefer 1988, S. 74–77.

Im zweiten Satz in d-Moll (Molto vivace, 3/4-Takt), dem Scherzo der Sinfonie, folgen nun dem »verzweiflungsvollen Zustand« des ersten Satzes die satanischen Freuden dieser »wüsten Zeiten.« Der Satz besteht aus den Teilen A (Scherzo) – B (Trio) – A’ (Scherzo mit Coda). Das Scherzo ist mit Exposition, Durchführung und Reprise wie ein Sonatensatz angelegt, wobei es zwischen dem ersten sonatensatzartigen Teil und seiner Wiederholung ein großes kantables Trio umfaßt. Das Kopfmotiv des Satzes, der punktierte Oktavsprung in den Streichern und der quergestellten Pauke, ist mit dem Kopfmotiv des ersten Satzes verwandt: Das Kopfmotiv der Exposition entspricht einer daktylisch gezeichneten Viertelbewegung und wird, von wenigen Momenten und dem Trio abgesehen, während des gesamten Satzes fortgesetzt (vgl. Abbildung 11.17).113

113 Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 9 für 4 Solostimmen, Chor und Orchester d-Moll op. 125, II. Satz Molto Vivace, hrsg. von Max Unger. London 1987, S. 82.



Abbildung 11.17: L. v. Beethoven: Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125, II. Satz, Kopfmotiv der Exposition



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