die Idee der Brüderlichkeit und der des
moralischen Fortschritts. Sie ist ein Appell an die Menschen, eine neue, bessere
Gesellschaftsordnung zu begründen und zu erhalten. Berücksichtigt man die ungeheure
musikalische Dynamik des Werkes, so ist sie ebenso ein Appell zur »Revolution aller
Verhältnisse«106
– zu einer Revolution, die – wie das Finale zeigt – wenig tolerant mit den Verächtern
ihres Ideals umgeht. Seiner Idee nach müsse die Politik in Moral und umgekehrt die
Moral in Politik begründet sein. Diesem Idealismus, der in der Ästhetik des Erhabenen
begründet liegt, entspricht der musikalische Monumentalstil seiner neunten Sinfonie.
Doch sind die Ideale, die in der Sinfonie offenbar werden, keine Reaktion Beethovens auf
die aktuelle politische Situation. Da er der Idee des reinen »Ideenkunstwerkes« nachhing,
bleiben die Ideen autonom. Daß sie der aktuellen Lage widersprechen, ist keine Absicht,
sondern Konsequenz des Werkes und bestätigen damit Beethovens Idee des autonomen
Kunstwerkes.
Obwohl es sich bei der neunten Sinfonie entsprechend der zeitgenössischen
Musikästhetik des frühen 19. Jahrhunderts um ein autonomes Kunstwerk handelt,
ergeben sich jene ideellen Reflexionen jedoch nicht nur aus der musikalischen
Struktur, sondern auch aus Beethovens eigenen ästhetischen Reflexionen, die er
wie oben geschildert im »erhaben Kunstwerk« manifestiert sehen will. Aus
diesem Grunde wäre eine rein musikalische Analyse dem Werk nicht angemessen.
So soll die folgende Analyse nicht nur die musikalische Substanz betrachten,
sondern auch die Idee Beethovens im Sinne rezeptionsästhetischer Methoden
berücksichtigen.
Die Linie, die seit dem 19. Jahrhundert die Verehrer der Sinfonie von den Kritikern
trennt, zieht sich durch das gesamte Werk. Doch Beethoven hat sie selbst gezogen: auf
der einen Seite stehen drei konventionelle instrumentale Sätze, auf der anderen Seite der
nach Meinung vieler zeitgenössischer Kritiker der »äußerst unschöne« vierte Satz
mit seinem Chorfinale. Das Ganze ist, so Eduard Hanslick, eine Ȋsthetische
Ungeheuerlichkeit«, denn der Chor stimme mit dem instrumentalen Teil nicht
zusammen.107
107 Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der
Tonkunst. (Unveränd. reprograf. Nachdruck der 1. Aufl., Leipzig 1854). Darmstadt 1991,
S. 50n.
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Der Zwiespalt ihrer Teile läßt sich, so Seidel, rein musikalisch nicht erklären. Er erfordere
eine Interpretation, die in Hinblick auf die oben genannte Idee Beethovens über
das Musikalische hinausgeht. Um der Vollständigkeit halber werden hier und
im folgenden Kapitel alle Sätze angesprochen. Da der Film Uhrwerk Orange
jedoch lediglich den zweiten und den vierten Satz zitiert, soll im Falle des ersten
und dritten Satzes weniger auf die musikalische Analyse als vielmehr auf die
ästhetische Bedeutung des Satzes innerhalb der gesamten Sinfonie Wert gelegt
werden.
Der gewaltige erste Satz (Allegro ma non troppo, un poco maestoso, 2/4-Takt) gestaltet
zunächst eine »Welt ohne Freude« (Richard Wagner). Das heroische Aufbegehren gegen den
»verzweiflungsvollen Zustand« bleibt vergeblich. Der Satz ist in musikalischen Dimensionen
gestaltet, die sich bisher bei Beethoven nicht finden. Scheinbar aus dem Nichts, aus den leise
zitternden leeren Quinten (a-e) entwickelt sich der Beginn. Die Quinte ist eine Keimzelle des
gesamten Werkes. Die Quint- und Quarteinwürfe lassen das musikalische Bild zunächst
unbestimmt – gemäß der romantischen Auffassung des nicht Festgelegten, das den Hörer im
Ungewissen läßt. In diese unheimliche Stimmung fährt nach kurzem Crescendo der
Hauptthemenkomplex völlig unerwartet hinein. Er gliedert sich in
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