- 288 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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4. Sequenz: Rückblende/Aschenbachs »Verjüngung«

Aschenbachs Welt von streng bürgerlicher Ordnung ist endgültig zerstört, als er sich dagegen entschließt, die polnische Gräfin und ihre Familie über die Cholera in der Stadt aufzuklären. Um den Verfall seiner Moral zu illustrieren, folgt sogleich die Rückblende vom Tod der Tochter Aschenbachs; das Adagietto setzt mit der Nahaufnahme des Sarges ein (vgl. Sequenzprotokoll Anhang B.2.4). Der Einsatz der Musik (Fremdton) mit einer Rückblende markiert sie zunächst wiederum als syntaktisches Funktionsmittel sowohl aus filmgliedernder Sicht als auch innerhalb der Montage. Zum einen markiert sie den Einsatz der Rückblende ähnlich wie in der zweiten Sequenz, zum anderen entschärft sie den unerwarteten Schnitt, die den Zuschauer von der Gegenwart in die Vergangenheit führt. Damit paßt sie sich auch an den Wechsel von Ort, Zeit und Handlung an und schafft eine Kontinuität im Ablauf der Montage. Mit den ersten vier Einstellungen zum Tod der Tochter wird sogleich die antizipierende Funktion des Adagiettos während des Kameraschwenks über die dunkle Wolkenfront der Landhaus-Rückblende eingelöst. Zugleich illustriert sie eine der stärksten Semantisierungen durch Mahlers Biographie, nämlich den Tod seiner Tochter Maria, die kurz nach der Ankunft der Familie in Maiernigg im Jahre 1907 an Scharlach erkrankt und wenige Wochen später stirbt. Visoconti vollführt in dieser Szene nahezu eine Kopie der Erinnerungen von Alma Mahler: »Am zweiten Tag nach dem Ende des Kindes bat Mahler meine Mutter und mich, hinunter an den Strand zu gehen. Dort bekam sie aus mir unerfindlichen Gründen einen Herzkrampf. [...] Da kam Mahler mit entstelltem Gesicht den Weg herab. Meine Augen irrten an ihm hinauf in die Höhe und – ich sah über mir, auf der Landstraße, wie der Sarg auf den Wagen gehoben wurde. Nun wußte ich die Ursache ihres plötzlichen Herzkrampfes und seiner Züge. Mahler und ich waren so fassungslos, so hilflos, daß ich – fast mit Glücksgefühl – in eine lange Ohnmacht fiel.«185

185 Alma Mahler-Werfel: Erinnerungen an Gustav Mahler, hrsg. von Donald Mitchell. Frankfurt am Main/Berlin 1971, S. 150.

Die Ähnlichkeit zwischen der Darstellerin Marisa Berenson und Alma Mahler ist wiederum auffällig. In dieser Zeit erfährt Mahler auch von seinem Herzleiden, dem er bereits vier Jahre später ebenfalls erliegt. Darüber hinaus bedient sich Mahler bei der Gestaltung der Aufktaktmelodie nicht nur stilistischer Anleihen an das Rückert-Lied. Das für ihn so charakteristische Motiv findet sich auch in dem Lied »Nun seh’ ich wohl, warum so dunkle Flammen« aus dem Zyklus der Kindertotenlieder, die ebenso in den Jahren 1901 bis 1904 entstanden sind. Auch hier bildet es das Eröffnungsmotiv in den Celli (vgl. Abbildung 11.9).186

186 Gustav Mahler: »Nun seh’ ich wohl, warum so dunkle Flammen«. In: Gustav Mahler: Kindertotenlieder, hrsg. von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft (= Gustav Mahler. Gustav Mahler. Sämtliche Werke, Bd. XIV). Wien 1979, S. 18.



Abbildung 11.9: G. Mahler: »Nun seh’ ich wohl, warum so dunkle Flammen«, Kindertotenlieder


Der unmittelbare Bezug zu Mahlers Kindertotenliedern drängt sich in der Beerdigungsszene von Aschenbachs Tochter geradezu auf. Der Hinweis auf Mahler ist auch deshalb so eindeutig, da sich weder in der literarischen Vorlage noch in einem anderen Werk, an das Visconti in seiner Verfilmung anknüpft, ein ähnlicher Hinweis findet, der die Rückblende aus einer anderen Sicht rechtfertigen könnte. Das Adagietto wird hier wiederum mit dem dramaturgischen Todesmotiv vereint und paraphrasiert die visuelle Ebene. Auffällig ist hierbei die so harmlose Geräuschkulisse


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