- 289 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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wie Vogelgezwitscher und das Hundegebell im Hintergrund. Sie ist ein Symbol für die trügerische Landidylle, in die der Tod unvorhergesehen einbricht. Das Adagietto entlarvt letztlich die trügerische Idylle. Die Geräusche verschmelzen unmerklich mit der Musik, die auditive Ebene wird mehrschichtig (Lissa) und kommt ihrer Doppelrolle nach, nämlich zum einen naturalistisches Element als auch Teil der Musik selbst zu sein wie Adorno und Eisler das Geräusch in der Musik rechtfertigen.

Der Schnitt zur Gegenwartsebene (Einstellung 5) ist eher unsichtbarer Natur. Zwar fällt er unmittelbar mit der Eins von Takt vier zusammen, die Melodie weist hingegen keinerlei Zäsuren auf, so daß mit der Entwicklung des Themas auch ein visueller Fluß entsteht. Während die Labilität des ersten Themas in der Rückblende noch paraphrasierend und dramaturgisch affirmativ ist, wird sie in den Einstellungen, in denen Aschenbach sich verjüngen läßt, zum dramaturgischen Kontrapunkt. Während der Einstellungen fünf bis zehn redet fast ausschließlich der Friseur, seine hektische und enthusiastische Geschäftstüchtigkeit spiegelt sich in jenem ebenso hektischen Schuß-Gegenschuß-Verfahren der Kameraperspektive wider. Das Motiv der Falschheit manifestiert sich nicht nur in der Person des Friseurs, sondern auch während der nun folgenden »Verjüngungskur« Aschenbachs. Nicht nur die Funktion der Musik ist hier kontrastiv, auch die Kontrastwirkung von Bild und Musik ist in den folgenden Einstellungen (10 bis 17) schockierend. Von den labilen sich langsam vortastenden Klängen des ersten Themas begleitet, setzt Visconti Wert auf jedes kleinste Detail der nun folgenden Färb- und Schminkprozedur. Der Dialog wird ausgeschaltet, die Geräuschkulisse des Friseursalons und die Musik bilden in Schneiders Sinne eine Einheit, die jeden Handschlag des Friseurs durch die Kameraführung begleitet. In dieser Konstellation wirkt Aschenbachs Verjüngung wie ein stummes Ritual. Die Detail- und Nahaufnahmen fördern den dramaturgischen Kontrapunkt. Das Färben der Haare, die grotesk geschminkten Lippen Aschenbachs und das Pudern seiner Augen: die Musik läuft zwar labil, doch kontinuierlich weiter und entlarvt wie in der vorherigen Rückblende die Falschheit dieser ganzen Szene. Der »Schönheit« des ersten Themas wird die künstliche Schönheit Aschenbachs gegenübergestellt, die eher wie ein Maske wirkt, unter der der allgemeine Verfall Aschenbachs seinen Lauf nimmt. Dadurch, daß das Adagietto bisher jedes Mal mit dem Todesmotiv konfrontiert wurde, hat es seinerseits eine Semantisierung durch den Film erfahren, es reflektiert nunmehr auch die Schönheit, die von Verfall und Tod bedroht ist. Diese Semantisierung erfährt in dieser Szene ihren ersten Höhepunkt:


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