sprengte. Als wollte Visconti
seine musikalische Quelle Mahler bestätigen, erfolgt mit der Wiederholung des
ersten Themas, das gegenüber den vorherigen Takten mit einem Trugschluß
eingeführt wird, eine Rückblende, in der Aschenbach ganz im Gegensatz zu seiner
sonstigen Isolation in der Gesellschaft als liebevoller Ehemann und Familienvater
dargestellt wird. Gegenüber der kontinuierlichen und doch wieder zurücknehmenden
Steigerung des dritten Themas ist das erste Thema wieder ein neuer Anfang der
thematischen Variation. Der Trugschluß deutet auch in der visuellen Ebene ein neues
Bewußtsein in Form der Rückblende an. Somit fungiert das Adagietto im Zuge der
Semantisierung nicht nur als affirmative Bildinterpretation und dramaturgischer
Kontrapunkt im Sinne Thiels, sondern auch syntaktisch. Diese Funktion ist hier
sowohl filmgliedernd bedingt – der Trugschluß markiert die Rückblende – als
auch aus der Montage heraus entstanden, da sie sich mit ihrem erneut ruhigen
Gestus an die harmonische Familienszene in den Bergen anpaßt. Somit schafft
sie wiederum eine Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Der
Schnitt ist sehr genau kurz vor dem Einsatz des ersten Themas plaziert. Die
vorhergehende Nahaufnahme Aschenbachs deutet darauf hin, daß die Stimme
seiner Frau, die noch in der Gegenwartshandlung einsetzt, bereits ein Ergebnis
seiner eigenen Erinnerung ist. Auf diese Weise schafft die Musik, die eingangs
bereits mit dem Liebesmotiv semantisch besetzt wurde, auch eine assoziative
Verbindung zwischen Tadzio in der Gegenwart und seiner Frau in der Vergangenheit,
denn beide verkörpern jenes Liebesmotiv. Insofern verdeutlicht das Adagietto
zugleich Aschenbachs eigenes Psychogramm, denn seine Liebe zu Tadzio tritt ganz
offensichtlich auch an die Stelle einer gescheiterten und nur mühsam verdrängten
familiären Beziehung. Dies zeigt sich ebenso in einer späteren Vision, in der
Aschenbach wie in einem Familienbild Tadzios Mutter vor der Cholera in Venedig
warnt.
Die Szene in den Bergen, die sich jeder literarischen Grundlage entzieht, ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß Visconti bei der Charakterisierung von Manns Aschenbach auch die Person Mahlers vor Augen hatte, denn das idyllische Familienglück in den Bergen deutet auf Mahlers Sommeraufenthalte mit seiner Frau und seinen Töchtern in Maiernigg. Die Herzlichkeit und Wärme seiner Frau wird durch den zarten Gestus des ersten Themas widergespiegelt. Die Kameraweite über das sich verdunkelnde Alpenpanorama, das einen Sturm andeutet, ist eine Andeutung des trügerischen Familienglücks; der Schwenk der Kamera vollzieht sich auf den dissonanten Intervallen c-cis’ und c-h zwischen Bässen und Celli, die den harmonischen Verlauf der Kadenz stören. Darüber hinaus ist mit dem Schwenk in die Natur auch Mahlers »Inspirationsquelle« paraphrasiert, die sich sogleich in der nächsten Einstellung bestätigt, als Aschenbach durch die Natürlichkeit Tadzios inspiriert sein Meisterwerk schreibt. An dieser Stelle wird das Adagietto wiederum unterbrochen. Der Bruch entsteht ähnlich wie in der zweiten Sequenz durch den Schnitt in die Gegenwart, in der das Ende der Musik sogleich durch die intensive Geräuschatmosphäre des Strandes und die verdichtete Handlung aufgefangen wird. Indem das Ende der Musik auch das Ende der Rückblende markiert, fungiert sie neben ihrer dramaturgischen Bedeutung auch als syntaktisches Moment der Montage. |