zurücknehmend in Dynamik und
Harmonik – bis das Thema in Takt 72 in einem überraschenden Trugschluß in F-Dur
endet. Das erste Thema wird leicht variiert und verkürzt wiederholt, das Motiv II
erscheint wiederum in den Celli, jedoch ebenfalls variiert, bis in Takt 87 bereits das
Motiv III wiederum in den Violinen einsetzt. Es wird durch eine Steigerung zum
Höhepunkt des gesamten Satzes geführt (Takt 95). Das Adagietto endet nach einer
unvollständigen Kadenz (IV-I) in der Tonika F-Dur. Die dabei kontinuierlich abfallende
melodische Linie (Takt 95–99) ist wiederum eine Anleihe an die Schlußtakte
des Rückert-Liedes »Ich bin der Welt abhanden gekommen« (vgl. Abbildung
11.8).172
Die Struktur des Adagiettos sowie die satztechnische Verfahrensweise Mahlers verweist auf eine Vielfalt von historischen Einflüssen: die liedhaft, primär harmonisch bestimmte Satzfaktur ist ein spezifisches Charakteristikum der österreichischen Sinfonietradition des späteren 19. Jahrhunderts (Schubert und Bruckner). Desweiteren erinnern die verschiedenen aufeinanderfolgenden Variantenverfahren – das »Ausmelodisieren« der Kernmelodie des ersten Themas oder seine variierte Wiederkehr in Takt 73 – nicht nur an den österreichischen Sinfoniestil, sondern auch an Volks- und Tanzmusik respektive an bestimmte Formen der Serenadenmusik des 19. Jahrhunderts. Die Pluralität der Formteile führt zur Frage der Satzeinheit bzw. welche Faktoren in Mahlers Adagietto auf Einheit bzw. auf Integration im Satzganzen zielen. Mit der Romantik wandelte sich das ästhetische Ideal der Einheit von einer klassisch architektonisch-statischen Kategorie zu einem entscheidend von den Gedanken der diskontinuierlichen Veränderung getragenen Leitbild. Musikalische Einheit wird nicht mehr durch Wiederkehr des Gleichen, sondern durch Veränderung bestimmt, die auf den zeitlichen Verlauf des Satzganzen bezogen ist. Während die klassische Einheit von den Gedanken Einheit durch Veränderung des Materials getragen wurde, so lautete es besonders in der Spätromantik: Einheit trotz Veränderung. Form und Ausdruck fallen auseinander und garantieren dennoch Geschlossenheit. Dies erfüllt auch Mahler im Adagietto in Form der ersten beiden Themen, die in Harmonik und Ausdruck nicht homogen sind. Dabei wirkt besonders die Rückkehr des ersten Themas als stark zentrierendes und integrierendes Element im Satzverlauf. Die Motivik des ersten Themas erscheint als frei verfügbares »Baumaterial«, als elementarer »Bewegungsstoff«, der sich durch den gesamten Satz zieht. Das erste Thema ist nicht im klassischen Sinne eine Gestalt, die per se |