- 273 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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etwas Neues auslöst, die Bedingungen knüpft und einlöst, sondern eher eine freie Formung, die ständigen Veränderungen unterliegt. Entsprechend sind die Ableitungen dieser Motivik, die sich besonders in der rhythmischen Gestaltung durch den gesamten Satz, auch durch alle folgenden Themen ziehen. Mahlers Prinzip der Themengestaltung ist in erster Linie die Variante: eine phantasievolle Motivumbildung, die sein kann aber nicht muß. Diese stellt sich nicht als zwingend dar, sondern ist eher frei. So erlangt der Hörer den Eindruck des »ewig Fließenden« und am Ende ins Nichts verschwindenden musikalischen Verlaufes.173
173 Schmitt 1983, S. 190–191.
Adorno bezeichnet diese Kompositionstechnik als »Musik des Werdens und der Entwicklung« und des »romanhaften« Komponierens174
174 Schmitt 1983, S. 192–193.
: eine Kompositionstechnik, die nicht auf die Darstellung einer Vielfalt, einer dialektisch motivischen Logik abzielt im klassischen Sinne, sondern in der Wiederkehr des verwandten Materials begründet ist, das letztlich die Einheit des Satzes garantiert.

Auffällig ist, daß Kommentatoren gewöhnlich die fünfte Sinfonie Mahlers zwar kompositionstechnisch analysiert haben, sich aber von einer möglichen außermusikalischen Deutung fernhalten. Ein Grund dafür sind sicherlich die melodischen, thematischen, rhythmischen und formalen Widersprüchlichkeiten des gesamten Werkes, die eine analytische Deutung wichtiger erscheinen lassen. Dabei wird stets darauf hingewiesen, daß Mahler mit der fünften Sinfonie einen neuen Abschnitt seines sinfonischen Schaffens betreten hat: er hat die Sinfonie nicht nur rein instrumental gehalten ist, sondern hat sich auch von den lyrisch-poetischen Vorlagen der ersten vier Sinfonien entfernt. Mahler zitiert nicht nur tradiertes Material, um neue Formen zu schaffen, er verläßt im Zuge dessen auch die traditionellen Regeln des Kontrapunkts und der melodischen Linienführung und läßt den traditionellen Choral im letzten Satz außer Acht. Silbermann spricht hier von der »Zerstörung der traditionellen Sprache« sowie dem »Aufbruch in neue Gefilde.« Die Sinfonie sei als das erste »realistische« Werk anzusehen, als eine »Sinfonie der Realitäten.«175

175 Silbermann 1986, S. 272.
Doch Realität betrifft auch die Gefühlslagen eines Menschen, auch als Reaktion auf seine Umwelt. Silbermann geht sogar soweit, die fünfte Sinfonie als Reflexion des ideellen Subjektivismus Mahlers zu interpretieren, die bis hin zur »egoistischen Selbstverwirklichung« reicht. Letzteres ließe sich bestätigen durch die verwickelte Eigenwilligkeit in Technik und Ausdruck, die über dem gesamten Werk liegt. Insofern ist die rein technische Deutung des Werkes zu einseitig, da die verschiedenen Stimmungen das Werk eines Menschen sind, der seine Ideologie in seinem musikalischen Schaffen umzusetzen versucht. Als solche eine Denkweise, die untrennbar ist von dem Geist des Komponisten, der sie verwirklichen will.

Über Sinn und Wert des für Mahler ungewöhnlich idyllischen und sentimentalen Adagiettos wird als Folge der allgemeinen Zurückhaltung in der Literatur viel spekuliert. Csampai betrachtet das Adagietto als »kleine Hintertür für Mahlers Weltflucht«, möglicherweise auch die »depressive Melancholie des Erfolgreichen« oder die »Sehnsucht nach ein wenig Ruhe«, das »Ausruhen-Wollen einer bedrängten, zerrissenen, heimatlosen Seele.«176

176 Csampai 1987, S. 633.
Diesen doch sehr feuilletonistisch überschwenglichen

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