- 216 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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die Handschellen um Boyles Handgelenk knackend einrasten, als dieser sich zu ihm herunterbeugt. Das musikalische Pendant: auf der halben Kadenz verstummt die Aria plötzlich in einem dramatisch dissonanten Orchesterschlag. Die Gefahr, die durch die Aria vorher wunderbar verschleiert wurde, tritt nun offensiv zutage. Mit diesem effektvollen Abbruch des Bachschen Musiktakes entlarvt Demme nicht nur die vernebelte Aufmerksamkeit der Beamten, sondern auch den Zuschauer, der sich insgeheim auch der verführerischen Wirkung der Musik hingegeben hat. Entsprechend effektvoll reißt ihn der Orchestereinsatz denn auch aus seiner friedvollen Versunkenheit und erinnert ihn daran, daß wir es hier mit einem hochgefährlichen und skrupellosen Psychopathen zu tun haben. Es kommt zu einem äußerst brutalen blutigen Gemetzel, bei dem die Kamera gnadenlos daraufhält. Am Ende sehen wir Lieutenant Boyle mit gespaltenem Schädel am Boden liegen. Der Orchestersatz verklingt, dafür blendet sich mit dem langsamen Kameraschwenk die siebte Variation von Bachs Goldberg-Variationen ein (vgl. Abbildung 10.4).29
29 Bach 1977, S. 77.



Abbildung 10.4: J. S. Bach: Goldberg-Variationen, Variation 7


Die »musikalische Perversion« ist an dieser Stelle nicht mehr zu überbieten: während das graziöse transparent zweistimmige Siciliano der siebten Variation im beschwingten 6/8-Takt in Trillern und Mordenten vor sich hinfließt, erfaßt die Kamera unbarmherzig das erschreckende Ausmaß von Lecters bestialischer Attacke: Blut, wohin das Auge blickt. Das Essen, Salz und Schlüssel sind über dem Boden zerstreut, Lieutenant Boyle liegt in seiner eigenen Blutlache. Die Kontrapunktik der Aria, die sich im ersten Teil dieser Szene langsam aufgebaut hat, wird hier deutlicher denn je. Der punktiert forwärtsstrebende Rhythmus der siebten Variation und ihre verspielt anmutende Stimmenführung offenbaren einen erschreckenden Kontrast zum Geschehen. Für einen kurzen Moment verharrt die Kamera auf dem blutgesprenkelten Kassettenrecorder, über dem Lecters rotgefärbte Hand sinnierend dirigiert. Die Kamera zieht nach oben, um den Zuschauer ein weiteres Mal zu schocken, denn in diesem Moment hebt Lecter seinen Kopf: sein blutverschmierter Mund gleicht dem Maul eines Wolfes, der gerade seine Beute gerissen hat. Er erscheint von dem Schlachtfeld gänzlich unbeeindruckt. Mit geschlossenen Augen lauscht er der Musik wie in Trance, aus der er dann jedoch durch den im Hintergrund keuchenden Sergeant Pembry gerissen wird. Ohne Eile greift er nach einem Taschenmesser am Boden und läßt es mit einer eleganten Bewegung wieder einschnappen. Mit einem süffisant herablassenden »Bereit, wenn Sie es sind, Sergeant Pembry. . . « verläßt er gelassen seinen Käfig, mit dem Schnitt auf den Fahrstuhlanzeiger bricht die siebte Variation ab.


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