- 215 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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so daß Goldberg ihm die Variationen nun regelmäßig vorspielen mußte. Es ist bis heute nicht überliefert, ob Bachs Goldberg-Variationen eher zum Einschlafen führten oder doch eher den »Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung« dienen sollten, wie Bach auch die vorhergehenden Teile der Klavier-Übung definierte. Zumindest zeigt diese Geschichte, daß die Gemütsergötzung, welche die Musik der wiederholten Versicherung auf den Titelblättern zufolge bewirken sollte, keine leere Floskel war, sondern daß sie als psychische Therapie sogar im Krankheitsfalle gesucht und erfolgreich erzielt wurde.

Diesem Variationswerk legt Bach nun die zitierte Aria im ruhigen Dreivierteltakt einer Sarabande zugrunde. Die reich verzierte Melodie ist zart und empfindsam; sie suggeriert eine gewisse Vertrautheit, Gefahrlosigkeit, ja sogar »Unschuld«, wie Keller es definiert.28

28 Keller 1996, S. 124.
Dementsprechend »harmlos« ist Lecters »Zelleneinrichtung«: langsam schwenkt die Kamera über seine Privatsachen: ein Gedichtband, Skizzen und eine liebevolle Kohlezeichnung, die Clarice mit einem Lamm auf dem Arm zeigt, eingerollte Ölbilder mit Motiven aus Florenz. Die Kameraführung folgt dem Rhythmus der Aria. Lecter, ganz in Weiß gekleidet, sitzt aufrecht hinter einem Wandschirm, die Augen geschlossen. Bedächtig meditiert er zu dem langsam dahinplätschernden Rhythmus der Aria. Bisher diente die Musik der affirmativen Interpretation des Bildes, das einen Mann zeigt, der sich durch Musik, Lesen und Zeichnen zu entspannen weiß. Er ist gebildet und kultiviert. Doch nun mischen sich verstörende Motive in die Szene, die nicht so recht zu dem grazilen Charakter der Musik passen wollen. Angefangen mit den Witzeleien der Beamten über Lecters »blutigen Appetit« bis hin zu ihren beiläufig ausgeführten Sicherheitsvorkehrungen, bevor sie die Zelle betreten: Schlagstock, Handschellen, Schlüssel und Tränengas gehören zu der Ausrüstung, mit der sie bis an die Zähne bewaffnet sind. Daß dies seinen Grund hat, zeigt die nächste Einstellung: Lecters zunächst so friedlich anmutende musikalische Versunkenheit ist in Wirklichkeit eine gezielte Vorbereitung auf seine Flucht, denn plötzlich taucht zwischen seinen Lippen das Metallstäbchen des Kugelschreibers auf, den er vorher Dr. Chilton auf ominöse Weise entwendet hat. Aufrecht wie ein Soldat mit einem formvollendeten Gruß tritt er den Beamten nun mit kontrolliert gelassenen Bewegungen gegenüber, die Metallspitze zwischen den Fingern versteckt wie die Kamera dem Zuschauer mit einem Zoom verrät. Dieser ahnt bereits die drohende Gefahr, während die Musik ironischerweise im gemäßigten Dreivierteltakt weiter vor sich hinplätschert. Die Beamten lassen sich – wie vielleicht einst der russische Graf – von der feinsinnigen Melodie einlullen, sie hegen keinerlei Argwohn. Dies wird ihnen zum Verhängnis, denn während Lieutenant Boyle das Tablett hineinträgt, macht Lecter sich – jedoch ohne irgendein Anzeichen von Hektik - an seinen Handschellen zu schaffen. Dabei sinniert er weiterhin im Takt der Musik geradezu stoisch vor sich hin, während er wie eine Spinne in ihrem Netz Lieutenant Boyle beobachtet, der behutsam seine Zeichnungen einrollt (ironischerweise streift die Kamera dabei ein Magazin mit dem vielsagenden Titel »Bon Appétit«, was bereits eine Antizipation auf das folgende Geschehen ist). Pembry ist derweil ebenso durch die Musik in Gedanken versunken. Die kontrapunktierende Funktion der Aria hat sogleich den erwünschten Effekt: mit einer blitzschnellen Bewegung schwungvoll wie ein Peitschenhieb läßt Lecter plötzlich

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