»Ich
weiß gar nicht, wer ursprünglich die Idee hatte, Bachs Goldbergvariationen zu
verwenden. Ich glaube, es war Jonathan. – Eine ziemlich gute Idee, wie ich
finde«30
30 Howard Shore, ohne Quellenangaben, zit. n. Keller 1996, S. 124.
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so äußerte sich der Komponist des Films, Howard Shore. Man kann ihm nicht
widersprechen. Der sanftmütige Charakter der Variationen Bachs läßt den Zuschauer im
nachhinein viel eher in angeekelter Abscheu verharren als jeder noch so düstere
paraphrasierende Orchesterklang. Die Diskrepanz ist es, die den Zuschauer erschreckt
und verwirrt: Bach und Blutlachen passen auf den ersten Blick einfach nicht zusammen.
Und dahinter verbirgt sich die dramaturgische Dimension von Lecters Charakter. So
kontrastreich die Musik in dieser Szene angelegt ist, so gespalten ist auch die
Persönlichkeit des Psychologen. Die Frage nach seiner Identität bleibt während der
gesamten Dramaturgie offen. »Hannibal der Kannibale« ist die erste stichhaltige
Information, die wir von Clarice während des einleitenden Gespräches zwischen ihr und
Crawford erhalten. Auf die Frage: »Was ist er?« antwortet der Gefängnisdirektor Dr.
Chilton: »Ein Monster, ein Psychopath schlimmster Sorte.« Für die psychologischen
Standardtests ist er zu intellektuell. Ganz offensichtlich ist er ein Mann von
hoher Bildung. Er liest Gedichte, zeichnet und malt aus dem Gedächtnis ganze
Ölgemälde. Sein Manieren sind – zumindest auf den ersten Blick – geschult,
Taktlosigkeiten sind für ihn verabscheuungswürdig, wie er Clarice nach ihrer
Begegnung mit Miggs sagt. Er hat einen Sinn für ein gepflegtes Äußeres – bei ihrer
ersten Begegnung kann er Clarice sagen, was für französische Duftwässerchen
sie benutzt. Als Psychologe hat er höchste Auszeichnungen erhalten. Er hat
einen überaus scharfen Verstand, ist in jeder Minute geistesgegenwärtig und
besitzt eine präzise Beobachtungsgabe. All dies zeichnet ihn als einen durchaus
kultivierten, gebildeten Menschen aus, der einen Sinn für Musik wie die von
Bach hat. Diese dient nicht nur als sozialer Index für seine Zugehörigkeit zu
einer gebildeten Schicht. Ihre Bedeutung geht noch weiter, sie ist Spiegel seines
Charakters. Bachs Musik ist Ausdruck eines absolut geistigen Wertes. Seit seiner
Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert ist er als Musiker schlechthin, als Inkarnation des
überpersönlichen, überzeitlichen Musikgeistes bewundert und gefeiert worden.
Niemals spricht er in seinen Kompositionen von sich, von individuellen Leiden und
Freuden. Er ist vielmehr Mittler religiöser Werte in seinen kirchlichen Werken,
Diener gesellschaftlicher Konventionen in seiner weltlichen Suitenkunst und
Vollstrecker musikalischer Entwicklungen in freien, nicht zweckgebundenen
Kompositionen wie beispielsweise dem Wohltemperierten Klavier, aber auch den
Variationswerken.31
31 Christiane Bernsdorff-Engelbrecht/Werner Oehlmann: »Frühzeit und Barock.« In:
Werner Oehlmann (Hrsg.): Reclams Klaviermusikführer, Bd. I: Frühzeit, Barock und
Klassik. Stuttgart 1993, S. 150.
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Der architektonische Geist der Gotik wirkt in seinen Formen nach, seine Musik ist das
Ergebnis absoluter geistiger Gestaltung fern von jeder Gefühlsduselei. Bachs
Klaviermusik ist Ausdruck esoterischer Geistigkeit und polyphoner Klarheit. Sie ist
harmonisch strukturiert, sachlich motiviert und in ihrer Interpretation jenseits aller
romatisierenden Wirkungen, übertriebener Ausdrucksakzente und dynamischer Extreme;
Affekte werden durch Harmonie und Melodik vermittelt.
Der viel zitierte Begriff des »Geistes« mit allen musikalischen Konsequenzen ist
die Verbindung zwischen Lecter und Bach. Er ist ein Psychologe von hohem
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