- 217 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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»Ich weiß gar nicht, wer ursprünglich die Idee hatte, Bachs Goldbergvariationen zu verwenden. Ich glaube, es war Jonathan. – Eine ziemlich gute Idee, wie ich finde«30
30 Howard Shore, ohne Quellenangaben, zit. n. Keller 1996, S. 124.
, so äußerte sich der Komponist des Films, Howard Shore. Man kann ihm nicht widersprechen. Der sanftmütige Charakter der Variationen Bachs läßt den Zuschauer im nachhinein viel eher in angeekelter Abscheu verharren als jeder noch so düstere paraphrasierende Orchesterklang. Die Diskrepanz ist es, die den Zuschauer erschreckt und verwirrt: Bach und Blutlachen passen auf den ersten Blick einfach nicht zusammen. Und dahinter verbirgt sich die dramaturgische Dimension von Lecters Charakter. So kontrastreich die Musik in dieser Szene angelegt ist, so gespalten ist auch die Persönlichkeit des Psychologen. Die Frage nach seiner Identität bleibt während der gesamten Dramaturgie offen. »Hannibal der Kannibale« ist die erste stichhaltige Information, die wir von Clarice während des einleitenden Gespräches zwischen ihr und Crawford erhalten. Auf die Frage: »Was ist er?« antwortet der Gefängnisdirektor Dr. Chilton: »Ein Monster, ein Psychopath schlimmster Sorte.« Für die psychologischen Standardtests ist er zu intellektuell. Ganz offensichtlich ist er ein Mann von hoher Bildung. Er liest Gedichte, zeichnet und malt aus dem Gedächtnis ganze Ölgemälde. Sein Manieren sind – zumindest auf den ersten Blick – geschult, Taktlosigkeiten sind für ihn verabscheuungswürdig, wie er Clarice nach ihrer Begegnung mit Miggs sagt. Er hat einen Sinn für ein gepflegtes Äußeres – bei ihrer ersten Begegnung kann er Clarice sagen, was für französische Duftwässerchen sie benutzt. Als Psychologe hat er höchste Auszeichnungen erhalten. Er hat einen überaus scharfen Verstand, ist in jeder Minute geistesgegenwärtig und besitzt eine präzise Beobachtungsgabe. All dies zeichnet ihn als einen durchaus kultivierten, gebildeten Menschen aus, der einen Sinn für Musik wie die von Bach hat. Diese dient nicht nur als sozialer Index für seine Zugehörigkeit zu einer gebildeten Schicht. Ihre Bedeutung geht noch weiter, sie ist Spiegel seines Charakters. Bachs Musik ist Ausdruck eines absolut geistigen Wertes. Seit seiner Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert ist er als Musiker schlechthin, als Inkarnation des überpersönlichen, überzeitlichen Musikgeistes bewundert und gefeiert worden. Niemals spricht er in seinen Kompositionen von sich, von individuellen Leiden und Freuden. Er ist vielmehr Mittler religiöser Werte in seinen kirchlichen Werken, Diener gesellschaftlicher Konventionen in seiner weltlichen Suitenkunst und Vollstrecker musikalischer Entwicklungen in freien, nicht zweckgebundenen Kompositionen wie beispielsweise dem Wohltemperierten Klavier, aber auch den Variationswerken.31
31 Christiane Bernsdorff-Engelbrecht/Werner Oehlmann: »Frühzeit und Barock.« In: Werner Oehlmann (Hrsg.): Reclams Klaviermusikführer, Bd. I: Frühzeit, Barock und Klassik. Stuttgart 1993, S. 150.
Der architektonische Geist der Gotik wirkt in seinen Formen nach, seine Musik ist das Ergebnis absoluter geistiger Gestaltung fern von jeder Gefühlsduselei. Bachs Klaviermusik ist Ausdruck esoterischer Geistigkeit und polyphoner Klarheit. Sie ist harmonisch strukturiert, sachlich motiviert und in ihrer Interpretation jenseits aller romatisierenden Wirkungen, übertriebener Ausdrucksakzente und dynamischer Extreme; Affekte werden durch Harmonie und Melodik vermittelt.

Der viel zitierte Begriff des »Geistes« mit allen musikalischen Konsequenzen ist die Verbindung zwischen Lecter und Bach. Er ist ein Psychologe von hohem


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