- 214 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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an ihr schlimmstes Kindheitserlebnis, was faktisch der Tod ihres Vaters war, psychologisch latent das Schreien der Lämmer. Mit dieser dramatischen Erinnerungsarbeit bringt Lecter Clarice zu der Erkenntnis über ihr wahres Ich mit all den verdrängten Ängsten, die sie überwindet, indem sie Buffalo Bill am Ende tötet und Catherine rettet. Auf diese Weise durchläuft sie selbst jene Metamorphose. Doch bleibt die Frage nach Identität und Persönlichkeit im Laufe der psychologischen Auseinandersetzung zwischen Lehrer und Schülerin nicht nur an Clarice haften. Die Gespräche zwischen den beiden liefern ein umfassendes Psychogramm über den einst so namhaften Psychologen Dr. Hannibal Lecter. Diese Erkenntnisse preschen gebündelt auf den Zuschauer ein, als Lecter aus seiner Hochsicherheitszelle ausbricht. Bezeichnenderweise ist gerade diese Szene mit Bachs Musik unterlegt.

Unter großen Sicherheitsvorkehrungen eines Sondereinsatzkommandos der Polizei wird Lecter im Shelby County Courthouse wie ein Tier in einen großen Käfig gesteckt, der zusätzlich mit Stacheldraht gesichert ist. Nachdem Lecter sein psychologisches Duell mit Clarice auf einen dramatischen Höhepunkt getrieben und ihr das tiefe Geheimnis ihres Kindheitstraumas entlockt hat, fliegt sie nach Washington zurück. Der Schnitt führt uns direkt in die Privatsphäre von Lecters Zelle. In einer Großaufnahme fängt die Kamera sogleich einen Kassettenrecorder ein, aus dem die »Aria« aus Bachs Goldberg-Variationen erklingt (vgl. Abbildung 10.3).25

25 Johann Sebastian Bach: Vierter Teil der Klavierübung. Aria mit verschiedenen Veränderungen BWV 988, hrsg. von Walter Emery/Christoph Wolff (= Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie V: Klavier- und Lautenwerke, Bd. 2). Kassel/Basel/Tours u.a. 1977, S. 69.



Abbildung 10.3: J. S. Bach: Goldberg-Variationen, »Aria«


Damit ist die Musikquelle gleich zu Beginn definiert, sie ist Teil der filmischen Fiktion. Die Entstehungsgeschichte dieses monumentalen Variationszyklus sei, so Werner-Jensen, derart »legendenhaft schön, daß sie in keiner Werkeinführung fehlen darf«26

26 Werner-Jensen 1993, S. 98.
. Bachs Variationszyklus ist ein frühes Beispiel für Musiktherapie: der kränkelnde Graf Hermann Carl von Keyserlingk, der russische Gesandte am kursächsischen Hof in Dresden, litt unter Schlaflosigkeit, so heißt es in Johann Nikolaus Forkels Bach-Biographie (1802). Der Cembalist des Grafen, Johann Theophilus Goldberg, sollte ihm dann regelmäßig nachts im Nebenzimmer seines Dresdener Hauses die Zeit vertreiben. Zu diesem Zweck bestellte Keyserlingk bei Bach einige Klavierstücke, »die so sanften und etwas muntern Charakters wären, daß er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte.«27
27 Heller 1984, S. 251.
Auf diese Weise entstand der Variationszyklus. Der Graf konnte sich nicht satt daran hören,

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