- 213 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Erlebnisanalyse kommt Faulstich zu dem einleuchtenden Ergebnis, daß dieser Film eine ganz neue Art von Thriller in den frühen neunziger Jahren ist.21
21 Faulstich 1995, S. 270–282.
Er ist Kriminalfilm und Psycho-Thriller in einem, der jedoch – und das ist neu – einen kalkulierten Angriff auf die Psyche des Zuschauers startet. Der offenkundige Aspekt des Kriminalfilms erfüllt das konventionelle Muster: die Polizei jagt einen Mörder, bringt ihn zur Strecke und befreit das Opfer. Es geht, so Faulstich, um die Lust der Angst, um Gefahr und ihre Überwindung und um die Wiederherstellung der gestörten Ordnung. Doch hinter diesem manifesten Kriminalfall verbirgt sich eine zweite – psychologische – Bedeutungsebene, auf der Clarice als zentrale Figur zusammen mit Lecter agiert. In diesem Zusammenhang weist Faulstich in seiner Analyse sogleich auf die Musik hin: beide Figuren würden durch eigene musikalische Motive ausgezeichnet, »die harmonisch eine Affinität zueinander aufweisen und im Verlauf der Handlungsentwicklung miteinander verwoben und kombiniert werden.«22
22 Faulstich 1995, S. 273.
Eine Aussage, die leider vollkommen unmotiviert im Text auftaucht und mit keinem Wort näher erläutert wird. Es ist fraglich, ob die Figur des Lecter überhaupt im konventionellen Sinne über ein eigenes Thema verfügt oder ob es sich in den Szenen, in denen er und Clarice ihr psychologisches Duell führen, nicht eher um Variationen des Clarice-Themas und damit des Main Title handelt, schließlich geht es auch hier stets um ihre Person. Letzteres ist wahrscheinlicher; Clarices Thema erklingt gleich zu Beginn bei ihrem morgendlichen Konditionstraining: ein melancholisches Oboen-Thema, das sich zusammen mit Streichern und Blechbläsern über einigen Mollakkorden erhebt, eine Art »Requiem-Ouvertüre«, wie Keller23
23 Matthias Keller: Stars and Sounds. Filmmusik - Die dritte Kinodimension. Kassel 1996, S. 47.
es ganz treffend beschreibt, denn die düster-monotonen Baßlinien und jene Perpetuum-Mobile-Figuren in den Mittelstimmen sind Ausdruck einer düsteren Vorahnung. Das Thema trägt sich in dieser Stimmung teils im Original teils variiert in den Szenen mit Lecter und Clarice fort. Insofern entbehrt die Aussage Faulstichs jeder musikalischen Grundlage.

Wenn es überhaupt ein musikalisches Thema gibt, das die Figur des Dr. Lecter eindeutig charakterisiert, so ist dies zweifellos das Zitat aus Johann Sebastian Bachs Komposition Clavier-Übung IV: Aria mit verschiedenen Veränderungen, seit dem 19. Jahrhundert besser bekannt als Goldberg-Variationen (BWV 988, 1742). Die Funktion dieses Zitates entspricht der psychologischen Thematik des Films: es geht nämlich weniger um Jäger und Gejagte, um Täter und Opfer – dem Kriminalfilm gebührend – sondern analog zur psychologischen Ebene um Lehrer und Schülerin, sprich Lecter und Clarice. Es geht ähnlich wie in Herbstsonate um persönliche Identität, um die Suche nach sich selbst. Begriffe wie »Transformation« oder »Metamorphose«, die kontinuierlich durch die Dramaturgie geistern, sind Indizien für jene Schlüsselkategorie der Identität. Das psychologische Duell, das Clarice mit Lecter ausfechtet, gleicht einem »theistischen Teufelspakt.«24

24 Faulstich 1995, S. 276.
»Sie müssen tief in Ihr innerstes Selbst schauen!« so rät Lecter seiner Schülerin. Ihr gegenüber fungiert er als Mentor; sie nimmt diesen Hinweis auf und erinnert sich im Laufe der Dramaturgie

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