- 209 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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beiden Interpretationen des a-Moll-Préludes sind Ausdruck der unterschiedlichen Charaktere der Frauen. Dabei lädt es die Szene insofern semantisch auf, als daß sein grüblerischer Charakter die Feindseligkeit zwischen den beiden Frauen reflektiert, die zu diesem Zeitpunkt jedoch noch unter der Oberfläche brodelt. Erst der nächtliche Streit deckt die vergifteten Rollen beider vollkommen auf. Insofern dient Chopins Prélude also auch der Vorbereitung auf den nächtlichen Schlagabtausch. Es erfüllt daher ebenso eine syntaktische Funktion, die sich aus der Montage ableitet, indem es inhaltliche Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Sequenzen schafft. Eine Semantisierung durch die filmische Dramaturgie erfolgt in der Hinsicht, als daß die beiden Frauen ihr beiderseits entstelltes Seelenleben in die Komposition hineintragen, Charlotte erhebt in ihrem Vortrag sogar den Anspruch der unumstößlichen Authentizität. Zwar reicht diese Semantisierung nicht, um dem Chopinschen Prélude auf immer und ewig einen Stempel aufzudrücken – dafür ist sie psychologisch zu subtil – doch im Zusammenspiel von Musik, Kameraführung, Gestik und Mimik der beiden Schauspielerinnen wird ein emotionales Treibhausklima geschaffen, das voller Sprengstoff ist. Einmal mehr erweist sich die Musik hier als eigenständiger Bestandteil, der zusammen mit den übrigen dramaturgischen Komponenten eine deutliche filmische Aussage schafft, die in dieser Konstellation weitaus feinsinniger formuliert wird als durch jedes gesprochene Wort.

Bei Bach treten Präludium und Fuge einander selbständig und ebenbürtig gegenüber. Sie sind erstmals zu einem festen Paar verbunden. Dieses Prinzip setzt Bergman filmisch um, indem er dem Chopinschen Prélude die nächtliche »Konfliktfuge« folgen läßt, die jedoch in diesem Fall eine Suite ist. Dennoch ist die filmisch-musikalische Konstellation unverkennbar, denn auch Bachs Cellosuiten werden alle durch ein Prélude eingeleitet. Das subtile Werk von Chopin diente gleich einer Exposition der Vorstellung der beiden unterschiedlichen Charaktere. Nun folgt die nächtliche Abrechnung – die Durchführung – bei der Evas Haß offenbar wird. Sie gibt ihrer Mutter die Schuld an Helenas Krankheit und ihrer eigenen seelischen Verkrüppelung. Sie erinnert sich an ein Osterfest, an dem Lena noch nicht so krank war und sich in Leonardo verliebte. An dieser Stelle erfolgt eine Rückblende, in der wir Charlotte, Helena und Eva aus der Distanz in einem kleinen dunklen Raum sehen. Leonardo sitzt mit dem Rücken zur Kamera und spielt die graziös getragene Sarabande aus Bachs Suite Nr. 4 Es-Dur für Violoncello solo (vgl. Abbildung 10.2).14

14 Johann Sebastian Bach: Suite Nr. 4 Es-Dur für Violoncello solo BWV 1010, hrsg. von Hans Eppstein (= Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie VI: Kammermusikwerke, Bd. 2). Kassel/Basel/London u.a. 1988, S. 79.



Abbildung 10.2: J. S. Bach: Suite Nr. 4 Es-Dur für Violoncello solo BWV 1010, Sarabande


Bergmanns Vorliebe für Kammermusik in seinen Filmen wird hier deutlich, obwohl diese Suite recht selten gespielt wird. Sie ist Teil einer Cellosuiten-Reihe (BWV 1007–1012), die wahrscheinlich in den Jahren 1717 bis 1720 entstand. Bach schuf auch hier etwas grundlegend Neues, indem er auf jedes Generalbaßfundament verzichtete und dafür offene wie versteckte Mehrstimmigkeit auf einem einzelnen Saiteninstrument schuf. Die Suiten weisen alle dieselbe Form auf: nach einem einleitenden »Prélude« folgen jeweils die vier immer zweiteiligen Standard-Tanzsätze der barocken Suite nach Johann Jakob Froberger: Allemande, Courante, Sarabande, Gigue.15

15 Arnold Werner-Jensen: Johann Sebastian Bach, Bd. 1: Instrumentalmusik. Stuttgart 1993, S. 208.
Syntaktisch gesehen dient Bachs Suite zunächst als filmgliedernde

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