- 208 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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der professionellen Pianistin und Lehrerin trumpft Charlotte gegenüber der verunsicherten Tochter nun wieder vollends auf, sie ist in ihrem Element. Ihren euphorisch erdrückenden Elan hat sie bereits kurz zuvor demonstriert, als sie schwungvoll den III. Satz aus Schumanns Klavierkonzert a-Moll anspielte. In ihrem nun folgenden Vortrag über den Unterschied zwischen Gefühl und Sentimentalität erörtert sie den Charakter Chopins mit einem Enthusiasmus, den sie bei ihrer eigenen Tochter nie aufgebracht hat. Ihre Ausführungen haben die sachliche Unpersönlichkeit einer Vorlesung in einer Meisterklasse: »Chopin ist nicht sentimental, Eva. Er ist emotional aber nicht rührselig.« Es wird jedoch schnell deutlich, daß ihre Interpretation Chopins ein Spiegel ihrer eigenen Lebenseinstellung ist: »Du mußt absolut ruhig, klar und kühl sein.« Und als sie die ersten Takte anspielt: »Es schmerzt, aber ich zeige es nicht.« Es wird offensichtlich, daß Charlotte eine Frau von scharfem Intellekt ist, von geradezu robustem Egoismus und pragmatischer Härte. Und diese Eigenschaften sieht sie auch vollständig in Chopin versammelt: »Immer Zurückhaltung und vollkommene Beherrschung. Chopin war stolz, sarkastisch, leidenschaftlich und sehr männlich. Er war kein sentimentales altes Weib. [. . . ] Das zweite Prélude muß sich fast häßlich anhören. [. . . ] Du mußt dich durchkämpfen, um als Sieger daraus hervorzugehen.« Dies demonstriert sie anschließend mit elegantem Stoizismus. Musik, und darin liegt die oben angesprochene Künstlerproblematik, ist für Charlotte ein Lebensersatz. Sie bietet ihr eine Welt, die sie kontrollieren kann. Dieses Mal fängt die Kamera sie im übergroßen Profil im Vordergrund ein, dahinter erscheint Eva in direkter Großaufnahme in der Position der Zuschauerin. Eine Weile betrachtet sie Charlottes Hände, hebt dann jedoch ihren Blick, um das gelassen konzentrierte Gesicht ihrer Mutter zu studieren. Evas schmollend grübelnder Gesichtsausdruck ist ein Kaleidoskop ihrer Gefühle gegenüber ihrer Mutter, in dem sich Bewunderung, Sehnsucht nach Liebe und Haß gegenseitig abwechseln. Die sensible Interpretation Charlottes bildet hierzu einen dramaturgischen Kontrapunkt. Zugleich ist Chopins Stück Ausdruck von Charlottes Charakter: die Musik, die Karriere ist es, in die sie jedes Gefühl investiert hat anstatt es ihrer Tochter zu geben. Eine tiefe Kluft zwischen der Kunst und dem Leben tut sich hier auf. Nirgendwo werden die Unterschiede zwischen Mutter und Tochter deutlicher als in diesen beiden Interpretationen. Die Wiederholung des Préludes erinnert an den – wie Linguisten sagen – hermeneutischen Zirkel:13
13 Ketcham 1986, S. 346.
sich wiederholende Ereignisse scheinen nach außen hin dieselben zu bleiben, doch durch Erkenntnis und Erfahrung unterscheiden sie sich voneinander und sind in sich komplex. Insofern hat Chopin hier in der Charakterisierung der beiden unterschiedlichen Frauen eine dramaturgische Schlüsselfunktion. Das Prélude, das Mutter und Tochter zunächst miteinander verbinden sollte, wird zum Symbol des Hasses zwischen ihnen. Allerdings hält Bergman sie noch in den subtilen Grenzen psychologischer Befindlichkeiten. Als die Szene endet, sehen wir das Trio aus einer kleinen Distanz durch den großen Türrahmen. Die Isolation der Gefühlswelten jedes Einzelnen ist offenbar, man hört nichts weiter als Charlottes Schritte und das Klirren ihrer Kaffeetasse.

Chopins Prélude fällt in dieser Szene in die historische Rolle des Präludiums zurück: es hat den Charakter eines »Vorspiels«, das die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf das folgende Stück lenken oder es musikalisch vorbereiten sollte. Die


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