der professionellen Pianistin und
Lehrerin trumpft Charlotte gegenüber der verunsicherten Tochter nun wieder
vollends auf, sie ist in ihrem Element. Ihren euphorisch erdrückenden Elan
hat sie bereits kurz zuvor demonstriert, als sie schwungvoll den III. Satz aus
Schumanns Klavierkonzert a-Moll anspielte. In ihrem nun folgenden Vortrag über den
Unterschied zwischen Gefühl und Sentimentalität erörtert sie den Charakter Chopins
mit einem Enthusiasmus, den sie bei ihrer eigenen Tochter nie aufgebracht
hat. Ihre Ausführungen haben die sachliche Unpersönlichkeit einer Vorlesung
in einer Meisterklasse: »Chopin ist nicht sentimental, Eva. Er ist emotional
aber nicht rührselig.« Es wird jedoch schnell deutlich, daß ihre Interpretation
Chopins ein Spiegel ihrer eigenen Lebenseinstellung ist: »Du mußt absolut
ruhig, klar und kühl sein.« Und als sie die ersten Takte anspielt: »Es schmerzt,
aber ich zeige es nicht.« Es wird offensichtlich, daß Charlotte eine Frau von
scharfem Intellekt ist, von geradezu robustem Egoismus und pragmatischer
Härte. Und diese Eigenschaften sieht sie auch vollständig in Chopin versammelt:
»Immer Zurückhaltung und vollkommene Beherrschung. Chopin war stolz,
sarkastisch, leidenschaftlich und sehr männlich. Er war kein sentimentales altes Weib.
[. . . ] Das zweite Prélude muß sich fast häßlich anhören. [. . . ] Du mußt dich
durchkämpfen, um als Sieger daraus hervorzugehen.« Dies demonstriert sie
anschließend mit elegantem Stoizismus. Musik, und darin liegt die oben angesprochene
Künstlerproblematik, ist für Charlotte ein Lebensersatz. Sie bietet ihr eine Welt, die sie
kontrollieren kann. Dieses Mal fängt die Kamera sie im übergroßen Profil im
Vordergrund ein, dahinter erscheint Eva in direkter Großaufnahme in der Position der
Zuschauerin. Eine Weile betrachtet sie Charlottes Hände, hebt dann jedoch
ihren Blick, um das gelassen konzentrierte Gesicht ihrer Mutter zu studieren.
Evas schmollend grübelnder Gesichtsausdruck ist ein Kaleidoskop ihrer Gefühle
gegenüber ihrer Mutter, in dem sich Bewunderung, Sehnsucht nach Liebe und Haß
gegenseitig abwechseln. Die sensible Interpretation Charlottes bildet hierzu
einen dramaturgischen Kontrapunkt. Zugleich ist Chopins Stück Ausdruck von
Charlottes Charakter: die Musik, die Karriere ist es, in die sie jedes Gefühl
investiert hat anstatt es ihrer Tochter zu geben. Eine tiefe Kluft zwischen der
Kunst und dem Leben tut sich hier auf. Nirgendwo werden die Unterschiede
zwischen Mutter und Tochter deutlicher als in diesen beiden Interpretationen. Die
Wiederholung des Préludes erinnert an den – wie Linguisten sagen – hermeneutischen
Zirkel:13
sich wiederholende Ereignisse scheinen nach außen hin dieselben zu bleiben, doch durch
Erkenntnis und Erfahrung unterscheiden sie sich voneinander und sind in sich komplex.
Insofern hat Chopin hier in der Charakterisierung der beiden unterschiedlichen Frauen
eine dramaturgische Schlüsselfunktion. Das Prélude, das Mutter und Tochter
zunächst miteinander verbinden sollte, wird zum Symbol des Hasses zwischen
ihnen. Allerdings hält Bergman sie noch in den subtilen Grenzen psychologischer
Befindlichkeiten. Als die Szene endet, sehen wir das Trio aus einer kleinen Distanz durch
den großen Türrahmen. Die Isolation der Gefühlswelten jedes Einzelnen ist
offenbar, man hört nichts weiter als Charlottes Schritte und das Klirren ihrer
Kaffeetasse.
Chopins Prélude fällt in dieser Szene in die historische Rolle des Präludiums zurück: es hat den Charakter eines »Vorspiels«, das die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf das folgende Stück lenken oder es musikalisch vorbereiten sollte. Die |