- 196 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (195)Nächste Seite (197) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

sich auf die antisemitische Projektion stützen. Lucien begehrt das jüdische Mädchen mit den rehbraunen Augen nicht, obwohl, sondern weil sie Jüdin ist.104
104 Gertrud Koch: »Kommentierte Filmographie.« In: Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hrsg): Louis Malle. Reihe Film 34. München/Wien 1985, S. 99.
Als solche wird sie zum gehetzten Wild, zur Beute, die der Jäger Lucien liebt. Er begehrt sie nicht, weil sie schön und reich ist, sondern weil sie jederzeit ihres goldenen Panzers beraubt werden kann, zu dem auch die Musik gehört. Insofern ist sie eine dramaturgisch treibende Kraft, die auf der ersten Ebene den tragischen Konflikt mitvorbereitet.

Das Adagio Sostenuto, der I. Satz der Mondscheinsonate, beendet die Linie der Zitate. Lucien holt France ab, um mit ihr auf eine Party zu gehen. Auch hier steht die emotionale Aussagekraft der Sonate ein weiteres Mal außer Frage (vgl. Abbildung 9.5).105

105 Beethoven 1976, S. 17.



Abbildung 9.5: L. v. Beethoven: Sonate Nr. 14 cis-Moll op. 27 Nr. 2, I. Satz, Mondscheinsonate


Die Widmungsträgerin dieser Sonate, die Gräfin Giulietta Guicciardi, war Beethovens Schülerin und zugleich seine »große unglückliche Liebe«. So liegt die Vermutung nahe, so Werner-Jensen, daß sich von dieser Zuneigung mehr als nur Spuren in der Musik finden lassen ohne daß man deshalb ausdrücklich von einer außermusikalischen Deutung der Sonate reden wollte.106

106 Arnold Werner-Jensen: Ludwig van Beethoven. Stuttgart 1998 S. 48.
Auf jeden Fall stellt das eröffnende »Mondschein-Adagio« ein extrem einseitiges, radikal auf den Tonfall einer einzigen melancholischen Gemütslage abgestimmtes Charakterstück dar. Beethoven verzichtet sogar zugunsten dieser emotionalen Einseitigkeit auf ein Formmodell. Das gleichmäßige Pulsieren der begleitenden Achtel-Triolen findet in der stoischen Ruhe aller Figuren in dieser Szene sein dramaturgisches Pendant. Die Großmutter, die noch vom Ghetto gezeichnet zu sein scheint, duldet Lucien unwillig; Horn hört dem Vortrag seiner Tochter mit starrem Blick zu. Die Wut über seine Lebensumstände und seine Machtlosigkeit kehrt sich hier in absolute Lethargie. Er hat Angst, in dem Gefängnis zu verkommen. Seine Trauer über den Verlust seines gesellschaftlichen Status und den seiner Tochter, die als Jüdin nicht am Konservatorium

Erste Seite (i) Vorherige Seite (195)Nächste Seite (197) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 196 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik