- 195 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Lucien offenbarer als je zuvor. Unbeholfen stellt er sich ihr als »Lacombe, Lucien« vor – ein Zeichen, daß sein Horizont nicht über die hierarchischen Machtverhältnisse einer Registraturliste hinausgeht. Die Musik ist in dieser Szene Antizipation des weiteren dramaturgischen Verlaufes. Sie suggeriert eine bürgerliche Oberschicht, zu der Lucien keinen kulturellen Zugang hat. Man ist geneigt, France in die Richtung der viel zitierten »höheren Tochter« zu schieben; sie geht jedoch weit über diesen Horizont hinaus. Sie spielt nicht irgendwelche leichten Salonstücke, sondern Beethovensche Sonaten, die ebenso weit über die Anforderungen der bürgerlich trivialen Salonklimperei hinausgehen. Ihre Brillanz befähigt sie sogar zu einem Studium am Konservatorium. Sie ist eine ernsthafte Virtuosin, die ihre Emotionen gewaltig am Klavier auszuleben vermag – ein Charakterzug, der keiner höheren Tochter gut zu Gesicht gestanden hätte und als vermeintliche Eitelkeit abgetan worden wäre. Als Jüdin erweist sie den »Heroen deutscher Kultur« ihre Reverenz, damit wird sie zur Trägerin deutschen Kulturgutes.103
103 Um Vertreter verschiedener Kulturgüter geht es auch in Steven Spielbergs Schindlers Liste (USA 1993). Die Todesschwadronen der Nationalsozialisten rücken unaufhaltsam ins Krakauer Ghetto vor; einige Bewohner verlassen zu früh ihre Verstecke, nicht ahnend, daß die Nazis bereits auf sie warten. Über diesen Szenen liegt eine gespannte Stille, die durch ein ruhiges Klarinettenthema mit »jüdischem Kolorit« (gespielt von Giora Feidman) illustriert wird. Die Melodie ergreift im Sinne einer geographischen Markierung klagend Partei für die verlorene Heimat der Verfolgten. Sie ist Ausdruck jüdischen Kulturgutes, der sozialen Rückbindung, der kulturellen Identität der Vertriebenen. Durch die einsetzenden Kugelgarben wird dieses akustische Klima abrupt zerrissen, die gellenden Schreie von Verfolgern und Verfolgten beherrschen das Geschehen. Dieses blutige Chaos wird nicht etwa durch einen expressionistisch dissonanten Orchesteraufschrei begleitet – stattdessen hören wir vollkommen unerwartet das rasante Prélude aus Johann Sebastian Bachs Englischer Suite Nr. 2 a-Moll (BWV 807). Ein deutscher Soldat hat sich ans Klavier gesetzt und demonstriert die Macht der Nazis auf akustische Weise. Die Bilder von der Ermordung der Juden finden so ihr Pendant auf der auditiven Ebene. Gleich einer Kugelgarbe prasselt dem Zuschauer die barocke Motorik des Bach-Präludiums – deutsches Kulturgut – um die Ohren und läßt jene jüdische Melodie endgültig verstummen, die Herrschaftsverhältnisse wechseln. Die tragische Kontrapunktik der Musik offenbart zugleich eine ethnische Schere: indem Spielberg dem Bachschen Präludium Bilder der totalen Ausrottung entgegensetzt, demonstriert er auf geradezu schockierende Weise, wie deutsches Kulturgut im Nazi-Regime verkommt. Soldaten, die nicht einmal Bach von Mozart unterscheiden können, werden hier zu Vollstreckern ihrer eigenen kulturellen Geschichte. Diese Thematik begegnet uns ebenso – wenn auch subtiler – in dem Film Der Englische Patient von Anthony Minghella (USA 1996). Als Hana (Juliette Binoche) auf dem verstimmten Klavier des alten Klosters die »Aria« und die erste Variation der Goldberg-Variationen von Bach spielt, ahnt sie nicht, daß die Deutschen in dem Klavier eine Sprengladung deponiert haben – eines ihrer »Lieblingsverstecke«. Damit gerät Bach wie in Schindlers Liste zu einer tödlichen Waffe, gegen die jeder traditionelle Kulturanspruch zur grotesken Farce wird.
Demgegenüber steht die Jazzmusik von Django Reinhardt und Stéphane Grappelli, die vorwiegend die leichtlebige Atmosphäre des Hotel Des Grottes charakterisiert. Was sich durch die Ebene der Musik bereits abzeichnet, wird später dramaturgisch kontinuierlich fortgeführt: die unvereinbaren Gegensätze sozialer Schichten. Malle unternimmt hier also den Versuch, das »unmögliche Paar« filmisch zu realisieren, dessen Verbindung meist den Konflikt markiert zwischen großer Leidenschaft und restriktiver sozialer Etikette. Bezeichnenderweise liegt der erste Hinweis auf die unterschiedlichen sozialen Schichten in der Musik. Darauf baut Malle den weiteren Konflikt auf, denn das »unmögliche Paar« basiert im weiteren Verlauf nicht mehr auf unvereinbaren Schichtzugehörigkeiten – dies ist lediglich die erste Ebene – sondern auf Machtverhältnissen, die

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