Lucien offenbarer als je zuvor. Unbeholfen stellt er sich ihr als »Lacombe,
Lucien« vor – ein Zeichen, daß sein Horizont nicht über die hierarchischen
Machtverhältnisse einer Registraturliste hinausgeht. Die Musik ist in dieser Szene
Antizipation des weiteren dramaturgischen Verlaufes. Sie suggeriert eine bürgerliche
Oberschicht, zu der Lucien keinen kulturellen Zugang hat. Man ist geneigt,
France in die Richtung der viel zitierten »höheren Tochter« zu schieben; sie
geht jedoch weit über diesen Horizont hinaus. Sie spielt nicht irgendwelche
leichten Salonstücke, sondern Beethovensche Sonaten, die ebenso weit über
die Anforderungen der bürgerlich trivialen Salonklimperei hinausgehen. Ihre
Brillanz befähigt sie sogar zu einem Studium am Konservatorium. Sie ist eine
ernsthafte Virtuosin, die ihre Emotionen gewaltig am Klavier auszuleben vermag –
ein Charakterzug, der keiner höheren Tochter gut zu Gesicht gestanden hätte
und als vermeintliche Eitelkeit abgetan worden wäre. Als Jüdin erweist sie den
»Heroen deutscher Kultur« ihre Reverenz, damit wird sie zur Trägerin deutschen
Kulturgutes.103
103 Um Vertreter verschiedener Kulturgüter geht es auch in Steven Spielbergs Schindlers
Liste (USA 1993). Die Todesschwadronen der Nationalsozialisten rücken unaufhaltsam
ins Krakauer Ghetto vor; einige Bewohner verlassen zu früh ihre Verstecke,
nicht ahnend, daß die Nazis bereits auf sie warten. Über diesen Szenen liegt
eine gespannte Stille, die durch ein ruhiges Klarinettenthema mit »jüdischem
Kolorit« (gespielt von Giora Feidman) illustriert wird. Die Melodie ergreift
im Sinne einer geographischen Markierung klagend Partei für die verlorene
Heimat der Verfolgten. Sie ist Ausdruck jüdischen Kulturgutes, der sozialen
Rückbindung, der kulturellen Identität der Vertriebenen. Durch die einsetzenden
Kugelgarben wird dieses akustische Klima abrupt zerrissen, die gellenden Schreie von
Verfolgern und Verfolgten beherrschen das Geschehen. Dieses blutige Chaos
wird nicht etwa durch einen expressionistisch dissonanten Orchesteraufschrei
begleitet – stattdessen hören wir vollkommen unerwartet das rasante Prélude aus
Johann Sebastian Bachs Englischer Suite Nr. 2 a-Moll (BWV 807). Ein deutscher
Soldat hat sich ans Klavier gesetzt und demonstriert die Macht der Nazis auf
akustische Weise. Die Bilder von der Ermordung der Juden finden so ihr Pendant
auf der auditiven Ebene. Gleich einer Kugelgarbe prasselt dem Zuschauer die
barocke Motorik des Bach-Präludiums – deutsches Kulturgut – um die Ohren und
läßt jene jüdische Melodie endgültig verstummen, die Herrschaftsverhältnisse
wechseln. Die tragische Kontrapunktik der Musik offenbart zugleich eine ethnische
Schere: indem Spielberg dem Bachschen Präludium Bilder der totalen Ausrottung
entgegensetzt, demonstriert er auf geradezu schockierende Weise, wie deutsches
Kulturgut im Nazi-Regime verkommt. Soldaten, die nicht einmal Bach von Mozart
unterscheiden können, werden hier zu Vollstreckern ihrer eigenen kulturellen
Geschichte. Diese Thematik begegnet uns ebenso – wenn auch subtiler – in dem
Film Der Englische Patient von Anthony Minghella (USA 1996). Als Hana
(Juliette Binoche) auf dem verstimmten Klavier des alten Klosters die »Aria« und
die erste Variation der Goldberg-Variationen von Bach spielt, ahnt sie nicht,
daß die Deutschen in dem Klavier eine Sprengladung deponiert haben – eines
ihrer »Lieblingsverstecke«. Damit gerät Bach wie in Schindlers Liste zu einer
tödlichen Waffe, gegen die jeder traditionelle Kulturanspruch zur grotesken Farce
wird.
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Demgegenüber steht die Jazzmusik von Django Reinhardt und Stéphane Grappelli, die
vorwiegend die leichtlebige Atmosphäre des Hotel Des Grottes charakterisiert. Was sich
durch die Ebene der Musik bereits abzeichnet, wird später dramaturgisch kontinuierlich
fortgeführt: die unvereinbaren Gegensätze sozialer Schichten. Malle unternimmt
hier also den Versuch, das »unmögliche Paar« filmisch zu realisieren, dessen
Verbindung meist den Konflikt markiert zwischen großer Leidenschaft und
restriktiver sozialer Etikette. Bezeichnenderweise liegt der erste Hinweis auf die
unterschiedlichen sozialen Schichten in der Musik. Darauf baut Malle den weiteren
Konflikt auf, denn das »unmögliche Paar« basiert im weiteren Verlauf nicht mehr auf
unvereinbaren Schichtzugehörigkeiten – dies ist lediglich die erste Ebene – sondern auf
Machtverhältnissen, die
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