- 197 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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studieren durfte, ist nicht zu überhören. Die Musik wird hier erstmals Kristallisationspunkt der Szene, sie ist Ausdruck von Horns seelischer Verfassung, der das Gefühl hat, »immer im Rhythmus dieser Musik gelebt zu haben.« Als solche fungiert sie wiederum auf der psychologischen Ebene, dabei kommt sie der amerikanischen mood-technique sehr nahe. Zugleich ist sie wiederum ein sozialer Index: Menschen wie Horn und seine Tochter gehören zur gebildeten Schicht. Sie sind in der Lage, Musik sinnlich wie gedanklich zu reflektieren. Lucien hingegen hat keinerlei intellektuelle Motivation, er gehorcht lediglich seinem Instinkt. Als Horn über die Traurigkeit dieser Musik sinniert, kann Lucien ihm nur hohl beipflichten. Indem er verkündet, daß er France abholen möchte, wird Horn jäh aus seiner lethargischen Erstarrung gerissen. Das musikalische Pendant: die Sonate mündet in zwei häßlich bedrohlich anmutenden Clustern, als Lucien sich in einer Drohgebärde Horn gegenüber auf die Tastatur des Klaviers setzt – eine im Grunde alberne Machtdemonstration Luciens im Tauziehen um die Gunst der Tochter.

Zugleich dient der erste Satz der Mondscheinsonate – ähnlich wie der dritte Satz – der dramaturgischen Antizipation. Lucien hat sich in France verliebt. Er benutzt seine Macht Horn gegenüber als Druckmittel, um mit ihr ausgehen zu dürfen. Damit eröffnet sich ihm eine andere ganz neue Art von Selbstverwirklichung - die des menschlichen Gefühls. Seine spätere Abkehr von der Gestapo und die Flucht sind also nicht das Resultat einer ihm zugewachsenen politischen Intelligenz, sie sind Luciens Reaktion auf das Aufkeimen seines menschlichen Empfindens. Mit dieser »Läuterung« schafft Malle letztlich eine »Re-Positivierung des Anti-Helden«.107

107 Koch 1985, S. 96.
Aus der Liebe zur Macht wird letztlich die »Macht der Liebe«. Dadurch, so Koch, erfährt Lucien am Ende eine Art metaphysische Umdeutung, die sich gerade dadurch einer am Realismus des Films orientierten Ideologiekritik entzieht. Diese vermeintliche »Läuterung« des Helden wird jedoch nicht dramaturgisch belohnt – und dies deutet auch die Musik, die vielleicht von einer »unglücklichen Liebe« Beethovens erzählt, bereits an: die Geschichte, die Realität holt auch France und Lucien am Ende des Films ein. Lucien wird von der Résistance verurteilt und hingerichtet – der Film rechnet die historischen Fakten auf.

Damit trägt die Musik Beethovens und Schumanns einen großen dramaturgischen Anteil, auch wenn sie meist subtil im Hintergrund erklingt. Die Semantisierung erfolgt jedoch nicht nur aus dem Kontext heraus, sondern ebenso durch den direkten innermusikalischen Ausdrucksgehalt des Zitats. Dabei repräsentieren Beethovens Sonate op. 110 sowie Schumanns »Préambule« zweifellos in erster Linie einen sozialen Index, schließlich baut die Verfilmung jenes »unmöglichen Paares« zunächst auf unüberbrückbare Gegensätze der gesellschaftlichen Schichten. Erst im weiteren Verlauf wird die semantische Funktion der Musik neben ihrem Kontext zunehmend um den direkten szenisch-musikalischen Ausdruck erweitert. So ist das Presto-Finale der Mondscheinsonate in erster Instanz psychologischer Ausdruck der Rebellion der Tochter, das Adagio Spiegel der Lethargie des Vaters. Doch findet hier keine Neusemantisierung statt. Zugegeben: Beethoven und Schumann stehen für eine zivilisierte, bürgerliche Welt, die der Luciens vollkommen fremd ist. Indem Lucien, der lediglich nach seinen Instinkten handelt, auf die schöne gebildete »Botticelli Venus« trifft, bekommt die zivilisierte Welt der Horns einen subtilen


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