- 193 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Dynamik fungiert sie zugleich als aktuelle Musik kommentierend (Kracauer). Wie bereits oben erwähnt, ist die Figur des Schneiders geradezu tragisch. Sein früherer Status in der Gesellschaft ist zerstört, seine Würde angekratzt. Der stolze Ausdruck der »Préambule« gleicht in dieser Szene einer Art affektivem Gedächtnis, denn sie beschwört jene ungetrübten Vorkriegszeiten herauf, in denen Menschen wie Horn in der Gesellschaft integriert waren. Der aufrechte Gestus des Stückes erinnert an bessere Zeiten. Als solche bildet die Musik ebenso einen Kontrapunkt, denn von der ehemaligen Eleganz des Schneiders ist nicht mehr viel übriggeblieben. Sich dieser Diskrepanz schmerzlich bewußt werdend, ist er sichtlich um Haltung bemüht. Seine Wut über seine Machtlosigkeit mündet in Verdrängung - er verbietet France, weiterzuspielen. Was zunächst durch das Schumannsche Zitat angedeutet wird, führt Jean-Bernard auf der sprachlichen Ebene fort, wenn er sagt: »Sie trauern sicher Paris nach.« Insofern erfolgt auch hier wiederum eine Semantisierung sowohl durch den musikalischen Kontext als auch durch den Ausdrucksgehalt der Musik.

Man könnte dem Zitat der »Préambule« auch eine zweite Bedeutungsebene zumessen. Schumanns Tanzzyklus Carnaval bezieht sich in der Vorstellung des Komponisten auf ein rauschendes Ballfest, auf dem Kostümierung und Maskerade eine besondere Rolle spielen. Durch die Gestapo hat Lucien zum ersten Mal die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Er nimmt die nun gewonnenen Annehmlichkeiten gerne an: er übt Macht aus, seine Schußwaffe gibt ihm ein Gefühl der Überlegenheit; er hat Luxusgüter, die flotte Atmosphäre im Hauptquartier Hotel Des Grottes imponiert ihm. Er ist wild und unberechenbar. Die Konsequenzen seines Handelns scheinen ihm egal zu sein, d.h. er reflektiert sie nicht. Über seine Unkultiviertheit und sein fehlendes Verständnis für jede Art von Moral kann auch ein noch so eleganter Anzug nicht hinwegtäuschen – auch eine Art von Maskerade. Indem France im Nebenzimmer »zum Maskenball aufruft«, entlarvt sie mehr zufällig jene gelackte Eleganz der Kollaborateure als schlechten Mummenschanz, hinter dem der moralische Verfall seinen Lauf nimmt. Als solche erhält das Schumann-Zitat ebenso die ästhetische Funktion eines ironischen Kommentars.

Das »kunstsinnige Wesen« hinter der Tür wurde bereits durch die Musik im Sinne einer Antizipation charakterisiert. Beethovens Sonate assoziierte Weiblichkeit und Sensibilität, Schumanns »Préambule« aber auch Stolz und Selbstbewußtsein. Mit der nächsten Szene, in der Lucien Horn zur Anprobe allein aufsucht, kommt das musikalische Moment des trotzigen Aufbegehrens hinzu. Bereits im Treppenhaus vernimmt man gedämpft die ersten Takte des Finales der Sonate Nr. 14 cis-Moll op. 27 Nr. 2 von Beethoven, besser bekannt als Mondscheinsonate (vgl. Abbildung 9.4).101

101 Ludwig van Beethoven: Sonate Nr. 14 cis-Moll op. 27 Nr. 2, Sonata quasi una fanatasia Mondscheinsonate, hrsg. von Hans Schmidt (= Beethoven. Werke, Abteilung VII, Bd. 3: Klaviersonaten II). München 1976, S. 21.



Abbildung 9.4: L. v. Beethoven : Sonate Nr. 14 cis-Moll op. 27 Nr. 2, Finale, Mondscheinsonate


Spätestens in dieser Szene wird deutlich, daß das Klavierspiel zum Alltag dieser Wohnung gehört – wie in Rosemaries Baby eine Anspielung auf bürgerliche Wohn- und Lebenskultur, nur mit dem Unterschied, daß die Wohnung der Horns eher einem Gefängnis gleicht. Auch die Qualität der Klavierübungen unterscheidet sich in erheblichem Maße von denen in Rosemaries Baby: während sich dort ein untalentierter Sprößling seine ungelenken Finger an einem im Grunde einfachen Klavierstück


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