- 192 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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wird. Von Politik hat er keine Ahnung, die Welt zerfällt für ihn in Jäger und Gejagte. Auf den Tod der anderen reagiert er gleichmütig, seine Indifferenz macht ihn zum Spielball der Kollaborateure.

Der Luxus, mit dem sich diese umgeben, offenbart mehr denn je ihre moralische Dekadenz. Jean-Bernard sonnt sich sichtlich überheblich in der Macht, die er über Horn hat. Er demütigt ihn vor Lucien, indem er ihn als »typischen Juden« bezeichnet: »stinkreich und geizig«. In diesem Moment erklingen – wiederum im Hintergrund – die ersten sechs Takte der »Préambule« aus Robert Schumanns Tanzzyklus Carnaval op. 9 (vgl. Abbildung 9.3).100

100 Robert Schumann: Carnaval. Scènes mignonnes sur quatre notes op. 9, Préambule, hrsg. von Clara Schumann (= Robert Schumanns Werke, Serie VII: Für Pianoforrte zu zwei Händen, Bd. 2). Leipzig 1968, S. 2–29.



Abbildung 9.3: R. Schumann: Carnaval op. 9, Préambule


Ein rhythmisch markantes Motiv, dessen kraftvolle Akkordfolgen an einen festlichen Fanfarenklang erinnern, mit dem die »Préambule« zum Tanz aufruft und die musikalisch-poetische Handlung als rauschenden Wirbel in Gang setzt. Auch dieses Werk Schumanns ist stark von der Literatur geprägt: »Pierrot« und »Arlequin«, die dem Davidsbündlerpaar »Eusebius« und »Florestan« entsprechenden Figuren der Comedia dell’Arte, treten auf. Eusebius verkörpert das zarte, introvertiert verträumte Element der Schumannschen Persönlichkeit, Florestan hingegen bildet den kämpferischen, feurigen und leidenschaftlichen Gegenpart. An diesen erinnert auch dieses zitierte Eingangsmotiv. Es erklingt, während die Kamera in einer Nahaufnahme auf Horn verweilt. Das Zitat agiert in dieser Szene besonders auf der psychologischen Ebene. Es dient zum einen der affirmativen Interpretation (Thiel). Die fast schon trotzig aufbegehrende Musik ist Ausdruck all jener tragischen Gefühle, die sich in diesem Moment in Horns Gesichtsausdruck widerspiegeln. Der Stolz des ehemaligen Schneiders der Pariser Oberschicht, gepaart mit ohnmächtiger Wut über seine Abhängigkeit von einem snobistischen Dandy, der zudem seine Macht über ihn genüßlich auskostet. Zugleich erfüllt das Schumannsche Zitat eine psychologisch strukturierende Funktion (Schmidt), da sie im Sinne jenes »Figur-Grund-Bezuges« (Motte-Haber) als »Reizhintergrund« die Gestalten konturiert. Sie rückt die psychologische Studie Horns in den Vordergrund, ohne selbst zum Mittelpunkt der Szene zu werden. Ausgehend von ihrer psychologischen


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