- 194 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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verbiegt, ist hier das Ziel unüberhörbar, Ausdruck und virtuose Brillanz der Beethovenschen Sonate zu erreichen, deren Schwierigkeitsgrad weitaus höher angelegt ist. Während sich France im Hintergrund in den Sechzehntel-Kaskaden des erregt aufwärts stürmenden Arpeggio-Themas austobt, findet nebenan ein amüsanter Diskurs über Knickerbockers statt. Die kurzweilig synkopierte – ein wenig »verjazzte« Version – des Themas gibt dem ganzen einen ironischen Beigeschmack, ebenso die spitzen Staccati der darauffolgenden melodischen Linie. In dieser Szene wird Luciens Figur ein weiteres Mal charakterisiert: er ist ein unschuldig schuldiges Kind, das politische Äußerungen nicht einzuschätzen weiß. Bei der Anprobe schiebt, dreht und wendet Horn den Jungen mit gelassenerer Geschäftigkeit, er weiß ihn richtig einzuschätzen. Seine stoischen Umgangsformen kontrastieren zu dem kantablen Seitengedanken des Themas, jene fast schon gehetzt wirkende melodische Linie – ein energischer Ausdruck von Schmerz und Leidenschaft.102
102 Günther Batel: Meisterwerke der Klaviermusik. Ein Führer durch die Klavierliteratur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wilhelmshaven 1997, S. 201.
In dieser Szene wird das Geheimnis um den ernsthaften, kunstsinnigen Menschen hinter der Tür endgültig gelüftet. Horns Tochter France ist eine echte Parisienne. In ihrem Namen trägt sie die Hommage des Vaters an das Gastland. Sie trinkt Champagner nur mit der richtigen Temperatur, sie ist gebildet, ihre Umgangsformen sind erster Klasse. Sie ist so impulsiv wie sie Klavier spielt; sie leidet unter dem Zwang, als Flüchtling im eigenen Land auf alle Lebensfreude verzichten und im Asyl wie im Gefängnis ausharren zu müssen. Daher begleitet sie Lucien später auf das Fest und wird seine Geliebte. Als Pariserin sieht sie keinen Grund, warum sie eigentlich verfolgt wird. Diese begreifliche Abwehr des auferlegten Schicksals spiegelt sich deutlich in dieser Szene wider. Ihr impulsiver Vortrag ist Ausdruck ihres innerlichen Aufbegehrens. Sie haßt es, Jüdin zu sein, die Ursache ihrer Verfolgung. Dies macht sie in den Augen ihres Vaters und der Großmutter zur »Überläuferin«. Der apokalyptisch emotionale Ausbruch in Beethovens Finalsatz paraphrasiert ihre innerliche Verfassung. Als solche erfüllt die Musik aus dem ihr immanenten Ausdruck heraus wiederum eine affirmativ dramaturgische wie auch in höchstem Maße psychologische Funktion.

In dieser Szene erfolgt jedoch auch eine Semantisierung durch den musikalischen Kontext. Jetzt, wo man erstmals das fragile und kapriziöse Geschöpf mit den blonden Schläfenlocken erblickt, wird die soziale Schere zwischen France und


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