verbiegt, ist hier das Ziel unüberhörbar, Ausdruck und virtuose Brillanz der
Beethovenschen Sonate zu erreichen, deren Schwierigkeitsgrad weitaus höher
angelegt ist. Während sich France im Hintergrund in den Sechzehntel-Kaskaden
des erregt aufwärts stürmenden Arpeggio-Themas austobt, findet nebenan ein
amüsanter Diskurs über Knickerbockers statt. Die kurzweilig synkopierte – ein
wenig »verjazzte« Version – des Themas gibt dem ganzen einen ironischen
Beigeschmack, ebenso die spitzen Staccati der darauffolgenden melodischen Linie.
In dieser Szene wird Luciens Figur ein weiteres Mal charakterisiert: er ist ein
unschuldig schuldiges Kind, das politische Äußerungen nicht einzuschätzen weiß.
Bei der Anprobe schiebt, dreht und wendet Horn den Jungen mit gelassenerer
Geschäftigkeit, er weiß ihn richtig einzuschätzen. Seine stoischen Umgangsformen
kontrastieren zu dem kantablen Seitengedanken des Themas, jene fast schon
gehetzt wirkende melodische Linie – ein energischer Ausdruck von Schmerz und
Leidenschaft.102
102 Günther Batel: Meisterwerke der Klaviermusik. Ein Führer durch die Klavierliteratur
von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wilhelmshaven 1997, S. 201.
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In dieser Szene wird das Geheimnis um den ernsthaften, kunstsinnigen Menschen hinter
der Tür endgültig gelüftet. Horns Tochter France ist eine echte Parisienne. In ihrem
Namen trägt sie die Hommage des Vaters an das Gastland. Sie trinkt Champagner nur
mit der richtigen Temperatur, sie ist gebildet, ihre Umgangsformen sind erster Klasse.
Sie ist so impulsiv wie sie Klavier spielt; sie leidet unter dem Zwang, als Flüchtling im
eigenen Land auf alle Lebensfreude verzichten und im Asyl wie im Gefängnis ausharren
zu müssen. Daher begleitet sie Lucien später auf das Fest und wird seine Geliebte.
Als Pariserin sieht sie keinen Grund, warum sie eigentlich verfolgt wird. Diese
begreifliche Abwehr des auferlegten Schicksals spiegelt sich deutlich in dieser Szene
wider. Ihr impulsiver Vortrag ist Ausdruck ihres innerlichen Aufbegehrens. Sie
haßt es, Jüdin zu sein, die Ursache ihrer Verfolgung. Dies macht sie in den
Augen ihres Vaters und der Großmutter zur »Überläuferin«. Der apokalyptisch
emotionale Ausbruch in Beethovens Finalsatz paraphrasiert ihre innerliche
Verfassung. Als solche erfüllt die Musik aus dem ihr immanenten Ausdruck heraus
wiederum eine affirmativ dramaturgische wie auch in höchstem Maße psychologische
Funktion.
In dieser Szene erfolgt jedoch auch eine Semantisierung durch den musikalischen
Kontext. Jetzt, wo man erstmals das fragile und kapriziöse Geschöpf mit den
blonden Schläfenlocken erblickt, wird die soziale Schere zwischen France und
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