- 191 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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einer Kleinstadt, wo ich die Außenaufnahmen für Lucien drehte, [. . . ] hörte ich aus einem der Häuser Klaviermusik; eine sehr melancholische Beethoven-Sonate, langsam gespielt. Abschnitte wurden wiederholt – offensichtlich übte gerade jemand. Ich lauschte und stellte mir diese im Versteck lebende jüdische Familie vor.«95
95 Philip French (Hrsg.): Louis Malle über Louis Malle. Berlin 1998, S. 130.
Die musizierende Person in dieser Szene lernen wir vorerst noch nicht kennen. Die zitierten Takte reichen jedoch bereits, um sich ein mögliches Bild von ihr zu machen. Der eröffnende Sonatensatz ist lyrisch und kantabel. Beethoven sichert diese Grundhaltung durch seine Vortragsbezeichnung »Moderato cantabile molto espressivo« ab; in einer Skizze Beethovens heißt es sogar »Moltissimo«.96
96 Jürgen Uhde: Beethovens Klaviermusik, Bd. III: Sonaten 16–32. Stuttgart 1974, S. 517.
Dies deutet auf das spezifische Gewicht jedes einzelnen Tones hin, der auch in dieser Szene in jedem Takt bedeutungsschwer unterstrichen wird. Durch die Rhythmisierung wird die Melodie in leichter Schwebe gehalten. Das alles geschieht »con amabilità«, sanft – wie unmerklich. Ein Klang der »ungestillten Sehnsucht«97
97 William Kindermann: »Klaviersonate As-Dur op. 110.« In: Riethmüller/Dahlhaus/Ringer 1994, Bd. II, S. 170.
, »Musik der Erwartung«98
98 Kindermann 1994, S. 174.
, »ungehemmtes Schweifen«99
99 Schumann 1979, S. 268.
, so heißt es leicht süßlich verkitscht in der Literatur. Ruft man sich die oben dargestellte bürgerliche Geschlechterrollendefinition des 19. Jahrhunderts ins Gedächtnis – die sentimentale Klaviermusik als rein weibliche Gefühlskunst – so deutet dieser Sonatenausschnitt auf ein weibliches Wesen hin, das in der Wohnung in einem Hinterzimmer am Klavier geübt hat. Insofern erfolgt eine Semantisierung sowohl durch den Kontext als auch durch den Ausdrucksgehalt der Musik selbst. Die Beethovensche Sonate, an sich bereits ein Aushängeschild bürgerlicher Musikkultur, dient als eine Art Antizipation des Milieus der Bourgeoisie, die ihre Töchter Klavier spielen läßt. Dies bestätigt sich in der folgenden Szene: Horn ist ein, wenn auch heruntergekommener, aber dennoch würdiger Repräsentant seiner Schicht, ein jüdischer Patriarch. Er hat als wohlhabender Schneider in Paris gelebt. In Rede und Haltung wirkt er sorgfältig gesittet, er vertritt mitteleuropäische Kultur. Aber seine unaufdringliche Korrektheit und seine Seriosität sind zugleich tragisch. Durch den Krieg ist er nicht nur seines Status und seiner Ehre beraubt worden, das verkrochene Schattendasein zehrt an seiner inneren Würde. Er wird von Jean-Bernard erpreßt; um von den Deutschen nicht entdeckt zu werden und in der Hoffnung auf eine Flucht nach Spanien zahlt er diesem regelmäßig Schweigegelder. Er wird gezwungen, Lucien zu akzeptieren, der sich später bei ihm einnistet und seine Tochter »verführt«. Als sozialer Typus paßt Lucien nicht zu ihnen. Unversöhnlich ist auch die Großmutter, die während des gesamten Films kein Wort mit Lucien wechselt. Die Musikkultur in dem Unterschlupf der jüdischen Familie deutet also gleich zu Beginn auf immense Klassenunterschiede: auf der einen Seite der ehemals wohlhabende Schneider der Pariser Oberschicht, auf der anderen Seite Lucien: ungebärdig, ruppig und unkultiviert. Ihm ist es völlig egal, ob er Tweed oder Flanell trägt. Seiner Herkunft nach hat er keine Zukunft. Er ist ein Umhergestoßener, er geht dorthin, wo man ihn aufnimmt und ihn teilhaben läßt an willkürlich ausgeübter Autorität. Er kämpft sichtlich um Anerkennung und ist am empfindlichsten getroffen, wenn er wie ein dummer Junge zurecht- oder zurückgewiesen

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