einer Kleinstadt, wo ich die Außenaufnahmen für Lucien drehte, [. . . ] hörte ich aus
einem der Häuser Klaviermusik; eine sehr melancholische Beethoven-Sonate,
langsam gespielt. Abschnitte wurden wiederholt – offensichtlich übte gerade
jemand. Ich lauschte und stellte mir diese im Versteck lebende jüdische Familie
vor.«95
95 Philip French (Hrsg.): Louis Malle über Louis Malle. Berlin 1998, S. 130.
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Die musizierende Person in dieser Szene lernen wir vorerst noch nicht kennen.
Die zitierten Takte reichen jedoch bereits, um sich ein mögliches Bild von ihr
zu machen. Der eröffnende Sonatensatz ist lyrisch und kantabel. Beethoven
sichert diese Grundhaltung durch seine Vortragsbezeichnung »Moderato
cantabile molto espressivo« ab; in einer Skizze Beethovens heißt es sogar
»Moltissimo«.96
96 Jürgen Uhde: Beethovens Klaviermusik, Bd. III: Sonaten 16–32. Stuttgart 1974,
S. 517.
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Dies deutet auf das spezifische Gewicht jedes einzelnen Tones hin, der auch
in dieser Szene in jedem Takt bedeutungsschwer unterstrichen wird. Durch
die Rhythmisierung wird die Melodie in leichter Schwebe gehalten. Das alles
geschieht »con amabilità«, sanft – wie unmerklich. Ein Klang der »ungestillten
Sehnsucht«97
97 William Kindermann: »Klaviersonate As-Dur op. 110.« In: Riethmüller/Dahlhaus/Ringer
1994, Bd. II, S. 170.
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, »Musik
der Erwartung«98
98 Kindermann 1994, S. 174.
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,
»ungehemmtes Schweifen«99
99 Schumann 1979, S. 268.
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,
so heißt es leicht süßlich verkitscht in der Literatur. Ruft man sich die oben dargestellte
bürgerliche Geschlechterrollendefinition des 19. Jahrhunderts ins Gedächtnis – die
sentimentale Klaviermusik als rein weibliche Gefühlskunst – so deutet dieser
Sonatenausschnitt auf ein weibliches Wesen hin, das in der Wohnung in einem
Hinterzimmer am Klavier geübt hat. Insofern erfolgt eine Semantisierung sowohl durch
den Kontext als auch durch den Ausdrucksgehalt der Musik selbst. Die Beethovensche
Sonate, an sich bereits ein Aushängeschild bürgerlicher Musikkultur, dient als eine Art
Antizipation des Milieus der Bourgeoisie, die ihre Töchter Klavier spielen läßt. Dies
bestätigt sich in der folgenden Szene: Horn ist ein, wenn auch heruntergekommener, aber
dennoch würdiger Repräsentant seiner Schicht, ein jüdischer Patriarch. Er hat als
wohlhabender Schneider in Paris gelebt. In Rede und Haltung wirkt er sorgfältig
gesittet, er vertritt mitteleuropäische Kultur. Aber seine unaufdringliche Korrektheit
und seine Seriosität sind zugleich tragisch. Durch den Krieg ist er nicht nur seines Status
und seiner Ehre beraubt worden, das verkrochene Schattendasein zehrt an seiner inneren
Würde. Er wird von Jean-Bernard erpreßt; um von den Deutschen nicht entdeckt
zu werden und in der Hoffnung auf eine Flucht nach Spanien zahlt er diesem
regelmäßig Schweigegelder. Er wird gezwungen, Lucien zu akzeptieren, der sich
später bei ihm einnistet und seine Tochter »verführt«. Als sozialer Typus paßt
Lucien nicht zu ihnen. Unversöhnlich ist auch die Großmutter, die während
des gesamten Films kein Wort mit Lucien wechselt. Die Musikkultur in dem
Unterschlupf der jüdischen Familie deutet also gleich zu Beginn auf immense
Klassenunterschiede: auf der einen Seite der ehemals wohlhabende Schneider der Pariser
Oberschicht, auf der anderen Seite Lucien: ungebärdig, ruppig und unkultiviert.
Ihm ist es völlig egal, ob er Tweed oder Flanell trägt. Seiner Herkunft nach
hat er keine Zukunft. Er ist ein Umhergestoßener, er geht dorthin, wo man
ihn aufnimmt und ihn teilhaben läßt an willkürlich ausgeübter Autorität. Er
kämpft sichtlich um Anerkennung und ist am empfindlichsten getroffen, wenn er
wie ein dummer Junge zurecht- oder zurückgewiesen
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